Sie sagen, dass stabile Staatlichkeit nicht selten selbst der Grund dafür ist, dass Gewalt freigegeben wird. Können Sie das erläutern?
Man kann in den letzten Jahren eine Wiederkehr von Carl Schmitts Thesen zum Ausnahmezustand beobachten. Der autoritäre Staatstheoretiker und NS-Kronjurist gehörte in der BRD zu den wenigen Akademikern, die nach 1945 Lehrverbot hatten. Schmitt behauptete – im Übrigen ähnlich wie Walter Benjamin –, dass staatliche Souveränität, Machtausübung und Rechtsordnung eng mit der Figur des Ausnahmezustands verknüpft sind. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat diese Debatte vor einigen Jahren wieder aufgegriffen und untersucht, wie die »Enthegung der Staatsgewalt«, also der Ausnahmezustand, vor allem nach dem 11. September 2001 zum Paradigma des modernen Regierens wurde. Wenn bei uns die Ermittlungsbehörden immer stärker autonom entscheiden können, wenn der Innenminister einfach so fordern kann, dass die Todesstrafe bei Terrorverdacht und dann noch von Ermittlungsbehörden angewandt werden darf, dann verweist das schon auf eine extreme »Enthegung von Gewalt«. Das Baskenland hat so etwas in den letzten dreißig Jahren schon erlebt.
Erschreckend ist, dass es dort gekoppelt war an den Demokratisierungsprozess, der Spanien in die Europäische Union führte. Es ist permanent und straflos gefoltert worden, und es wurden sogar Todesschwadronen aufgebaut wie in Lateinamerika – unter der Führung der sozialistischen Regierung Felipe González. Offensichtlich mit Wissen und Zustimmung der obersten Staatsorgane legten Terrorkommandos in den 1980er Jahren in Frankreich Bomben und brachten ziemlich wahllos Leute um. Das verweist darauf: Es gibt eine staatliche Seite des Terrorismus. Dadurch werden die ETA-Anschläge nicht besser. Ich finde, an Autobomben gibt es nichts zu verteidigen; selbst wenn nachvollziehbare Gründe vorgebracht werden, um diese Gewalt zu legitimieren. Aber andersherum gilt auch: Nichts legitimiert, dass der Staat zu terroristischen Mitteln greift.
Sie sagen, die Ablehnung von Gewalt ist nicht das Gleiche wie die Befürwortung eines Gewaltmonopols. Wie meinen Sie das?
Walter Benjamins »Kritik der Gewalt« definiert Recht als erfolgreich etablierte, in letzter Instanz aber willkürliche Gewalt. Dem staatlichen Gewaltmonopol muss daher mit großer Skepsis begegnet werden. Es gibt ja viele Leute, die das staatliche Gewaltmonopol für eine zivilisatorische Errungenschaft halten. Ich finde, das ist in dieser Schlichtheit eine falsche These. Damit will ich nicht sagen, dass ein Zustand anstrebenswert wäre, in dem sich diverse Gewalten selber regulieren. Man kennt ja solche Situationen in Slums, zum Beispiel in Lateinamerika. Da gibt es verschiedene bewaffnete Gruppen. Wer sich durchsetzt, hat dann vorübergehend, für ein paar Wochen, ein paar Monate, so etwas wie ein begrenztes Gewaltmonopol.
Das ist natürlich kein erstrebenswerter Zustand. Aber andererseits gibt es genug Hinweise, dass das auch für das staatliche Gewaltmonopol selbst gilt. In lateinamerikanischen Ländern, wo autoritäre Regierungen in den letzten dreißig Jahren versucht haben, sich durchzusetzen – egal ob das nun erfolgreich war oder nicht –, hat das auch zu brutaler, widerlicher Gewalt geführt. Und zum Teil ist diese Gewalt für die Menschen noch unerträglicher als die Herrschaft von Drogen-Gangs. Ich finde, man müsste eine andere Sache diskutieren. Man müsste fragen, wie Gewalt insgesamt gehegt werden kann. Das ist für die Linke eine wichtige Frage, denn es geht ja letztlich darum, wie Gewaltverhältnisse verschwinden. Das ist eines unserer wesentlichen Anliegen. Deswegen ist die Hegung der Gewalt das Ziel. Da gibt es unterschiedliche Dinge, die diskutiert werden müssten. Die Stärkung des Gewaltmonopols ist in der Regel nicht das adäquate Mittel dazu. Heute gibt es ja sogar wieder Leute, die sich von der Befriedungskraft imperialer Gewalt viel versprechen. In Deutschland steht der Politikwissenschaftler Herfried Münkler dafür. Münkler ist insofern eine bemerkenswerte Figur im deutschen Wissenschaftsbetrieb, als er immer noch von vielen Leuten Mitte-Links verortet wird. Dabei ist er jemand, der sich dafür ausspricht, dass Deutschland neoimperiale Politik macht, und sich dazu bekennt, weil jemand ja Ordnungspolitik machen muss. Münkler steht für eine anbiedernde akademische Haltung, die hofft, durch ihre Einflüsterungen bei den Mächtigen Einfluss zu erlangen. Es geht darum, globale Verteilungsordnungen und Machtordnungen zu begründen, die einen großen Teil der Menschheit von der Mitgestaltung, von der Mitbestimmung über die Ressourcen fernhält. Münkler versucht das in seinem Buch Imperien ausführlich damit zu kaschieren, dass er sagt: »Na ja, in den Imperien hat ja auch die Peripherie profitiert. Das Imperium hat versucht, die Peripherie mit hereinzuholen.« Im Grunde macht Münkler so etwas Ähnliches wie Samuel Huntington, nur unbedeutender: Er dient sich den Eliten als Theoretiker der Herrschaft an.
Der bürgerliche Staat birgt eine extreme Form organisierter Gewalt. Was bedeutet das für eine linke, eine emanzipatorische Politik, die sich für die Abschaffung von Herrschaft einsetzt, wenn sie im Rahmen von Staatlichkeit agiert?
Das ist eine große, strategische Frage. Ich würde, wenn es um die Frage der Gewalt geht, zunächst sagen, dass es gut ist, sich nicht auf ein Terrain zu begeben, eine Auseinandersetzung zu suchen, in der der Widerspruch so stark eskaliert. Die Linke hat historisch ja sehr stark in den Kategorien des Gegensatzes und des Widerspruchs, der Zuspitzung der Widersprüche gedacht. Wenn man sich die Geschichte der siebziger Jahre in Westeuropa anschaut, glaube ich, dass sich das zumindest teilweise als Irrtum herausgestellt hat. In Italien etwa gab es eine massenhafte Desertion von Menschen aus Ordnungen heraus, auch eine breit verankerte Massenmilitanz, die sich zum Beispiel in fröhlichen Plünderungen ausdrückte, wie man sie bei Dario Fo nachlesen kann.
Die Militarisierung des Konflikts u. a. durch die Roten Brigaden hat dazu geführt, dass es für die staatliche Macht sehr einfach war, ihre Ordnung wieder zu etablieren. So hat der Krisenstab in Italien sogar versucht, diese dichotomische Zuspitzung zu fördern. Ihnen war es viel angenehmer, einen klaren Gegner wie die Roten Brigaden zu haben, als die diffuse Desertionsbewegung, wie sie Ende der siebziger Jahre für Italien kennzeichnend war. Wenn die Staatsmacht so geschickt darin ist, Gewaltverhältnisse auszubauen, ist es nicht klug, sich auf so ein Feld zu begeben. Mal abgesehen von den furchtbaren menschlichen Kosten, die das ja auch immer nach sich zieht. Die andere Sache, die ich vertreten würde, ist: Ich würde mich nicht so sehr auf die Frage einlassen, ob man sich innerhalb der Staatlichkeit oder gegen sie bewegt. Die Linke sitzt einerseits oft dem Irrtum auf, der Staat sei neutral, man könne ihn einfach reformieren. Sie verkennt dann, dass Staatlichkeit die Institutionalisierung von Herrschaftsverhältnissen ist. Andererseits ist es natürlich auch falsch zu glauben, man würde permanent gegen den Staat stehen. Man kann den Staat durchaus als ein Terrain sehen, auf dem man sich auseinandersetzt. Ich meine damit gar nicht so sehr Politik, sondern Mikroebenen: Wenn man in einer emanzipatorischen Weise städtische Sozialarbeit macht, die ja Teil von Staatlichkeit ist, kann das Gesellschaft verändern. Man steht also nicht konsequent außerhalb. Der Staat ist ein facettenreiches und widersprüchliches Feld, auf dem man sich illusionslos bewegen muss. Er integriert eine Fülle von Meinungen und Optionen. Zum Beispiel bildet sich Widerstand gegen autoritäre Bewegungen im Staat oft auch im Staatsapparat selbst heraus. Um so etwas zu begreifen, braucht es eine komplexe Staatstheorie.
Wie schätzen Sie die Rolle der Partei Die Linke im Hinblick auf emanzipatorische Veränderungsprozesse ein?
Ich bin einerseits skeptisch wegen der Zusammensetzung der Partei aus sozialdemokratischen Gewerkschaftseliten und einer staatssozialistischen DDR-Linken. Das sind aus meiner Perspektive nicht unbedingt Träger eines antiautoritären Emanzipationsprozesses. Auf der anderen Seite aber muss man sehen: Wenn Dinge zusammenkommen, sind Umformierungen möglich. Was neu entsteht, kann mehr sein als die Summe der beiden Teile. Ich finde einige Sachen, die in letzter Zeit vertreten worden sind, auch durchaus positiv. Zum Beispiel haben Oskar Lafontaine und Katja Kipping in der Diskussion um die Gewalt während der Proteste gegen den G8-Gipfel in Rostock einen klaren Kopf bewahrt und nicht eingestimmt in den Chor, der meinte, sich distanzieren zu müssen. Sie haben gesagt, wir wollen nicht nur über ein abgebranntes Auto reden, sondern darüber, welche Gewalt von den Leuten hinter dem Zaun ausgeht. Das haben selbst viele Leute der Interventionistischen Linken nicht so deutlich gesagt. Positiv finde ich zudem, dass die Linkspartei heute die Gewerkschaften unter Druck setzt, sich aus ihrer Umklammerung durch die Sozialdemokratie zu lösen. Solange man nicht glaubt, dass es