Gerechtigkeit über Grenzen. Onora O'Neill. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Onora O'Neill
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783532600481
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Gefährdeten unter den Überlebenden wären vielleicht sowieso gestorben – hätten das nicht andere getan. Eine Politik, die auf den Tod einiger abzielt, mag also gerechtfertigt sein, wenn man annimmt, dass die am stärksten gefährdeten Überlebenden anderweitig nicht hätten gerettet werden können.

      Die globale Knappheit ist heute noch nicht da. Aber dass sie unmittelbar bevorzustehen scheint, hat Auswirkungen auf unser Handeln heute. Wenn alle Menschen das Recht haben, nicht getötet zu werden, und in der Folge die Pflicht, andere nicht zu töten, dann müssen wir vor dem Ausbrechen einer Hungersnot Maßnahmen ergreifen, die sicherstellen, dass der Hunger so lange wie möglich hinausgezögert und so weit wie möglich reduziert wird. Und die Pflicht, das Auftreten einer Hungersnot hinauszuzögern und das Ausmaß derselben zu verringern, umfasst auf der einen Seite die Pflicht, die künftige Erdbevölkerung zu verringern und die Mittel zum Überleben zu steigern.18 Denn wenn wir solche Maßnahmen nicht vor dem Eintreten einer Hungersnot ergreifen, könnten wir gezwungen sein, in Zeiten des Hungers zu drastischeren Mitteln zu greifen.

      Wenn wir also das Recht, nicht getötet zu werden, ernst nehmen, müssen wir uns nicht nur strategische Maßnahmen gegen künftige Hungersnöte überlegen, sondern auch bevölkerungs- und ressourcentechnische Vorkehrungen für die Gegenwart. Zum Thema „Bevölkerungspolitik“ gibt es ja lebhafte philosophische Debatten.19 Was die hier angesprochene Problematik angeht, weisen diese folgende Mängel auf: Erstens werden sie meist im utilitaristischen Rahmen diskutiert und konzentrieren sich größtenteils auf Probleme wie: Welche Art von Bevölkerungspolitik ist nötig, um die gesamte und durchschnittliche Nützlichkeit einer Population zu steigern? Zweitens beschäftigen sich diese Ansätze meist mit einer Form von Ressourcenknappheit, die die Lebensqualität beeinträchtigt, nicht aber mit einer, die das Leben an sich unmöglich macht. Sie drehen sich eher um die Frage „Wie viele Menschen dürfen wir noch dazubekommen?“ als um „Wie könnten wir möglichst wenig verlieren?“. Natürlich gibt es bevölkerungspolitisch gesehen viele interessante Fragen, die nichts mit Hunger zu tun haben. Hier aber werde ich mich nur mit jenen bevölkerungs- und ressourcenpolitischen Maßnahmen beschäftigen, die darauf abzielen, Hunger möglichst weit hinauszuschieben und zu reduzieren. Denn nur solche Maßnahmen gründen sich vermutlich auf den Anspruch, dass Menschen ein Recht haben, nicht getötet zu werden, und auf die daraus hervorgehende Pflicht, dafür zu sorgen, dass Situationen, in denen wir dieses Recht außer Kraft setzen müssen, möglichst vermieden oder zumindest hinausgeschoben werden können.

      Solche bevölkerungspolitischen Strategien können, je nach Ausmaß der Knappheit, milde oder drakonisch ausfallen. Ein paar Beispiele: Zu milden Maßnahmen könnte man Familienplanung rechnen, vielleicht mit finanziellen Anreizen oder Maßnahmen, die die Rechte der Menschen nicht beeinträchtigen, aber auf ihre Pflicht abzielen, ihren Körper zu kontrollieren. Selbst milde Maßnahmen würden einiges an Erfindungsreichtum (z. B. die Entwicklung von Verhütungsmitteln, die man auch in armen Ländern einsetzen kann) und Innovationen (z. B. eine Sozialpolitik, die den Anreiz und den Druck, eine große Familie zu haben, reduziert) erfordern.20 Drakonische Maßnahmen wären der Zwang zur Bevölkerungsbegrenzung – zum Beispiel durch verpflichtende Sterilisation nach der Geburt einer gewissen Anzahl von Kindern oder durch Wegfall von Gesundheitsvorsorge an Orten, die hohe Reproduktionsraten aufweisen, damit die Anzahl der Todesfälle nicht sinkt, solange die Geburtenrate hoch ist. Selbst eine Politik der vollkommenen Unterdrückung künftiger Geburten (durch z. B. allgemeine Sterilisation) würde die Voraussetzung erfüllen, den Hunger hinauszuschieben, denn ausgestorbene Rassen verhungern nicht. Ich setze hier auf keinerlei Prämissen, die zeigen würden, dass eine vollkommene Unterdrückung aller Geburten falsch wäre. Andere Prämissen hingegen könnten durchaus Gründe liefern, dass es falsch wäre, Menschen zur Sterilisation zu zwingen, oder genauer gesagt, dass eine bestimmte Anzahl Menschen besser wäre als gar keine Menschen. In jedem Fall machen die politischen Aspekte einer Anti-Hunger-Politik es wahrscheinlich, dass diese drastischste aller bevölkerungspolitischen Maßnahmen wohl kaum ergriffen wird. Außerdem gibt es ja noch eine ganze Reihe von Strategien, um die Ressourcen zu steigern. Zu den milderen Formen gehören die verschiedenen Maßnahmen zum Schutz der Umwelt und zur Kontrolle der Umweltverschmutzung, die heute diskutiert oder bereits umgesetzt werden. Am brachialen Ende dieses Spektrums stünde die Rationierung des Energie- und Materialkonsums. Ist das Ziel der Ressourcenpolitik, die bereits Geborenen nicht zu töten, dann setzt eine angemessene Strategie sowohl Erfindungen (z. B. Sonnenenergie und bessere Müllverwertungstechniken) als auch Innovationen voraus (z. B. die Einführung neuer Technologien auf eine Weise, dass die Vorzüge nicht sofort von der angewachsenen Bevölkerung wieder aufgefressen werden, wie es an einigen Orten im Zusammenhang mit der Revolution in der Landwirtschaft geschah).

      Wie auch immer: Wenn wir glauben, dass Menschen das Recht haben, nicht getötet zu werden, müssen wir uns mit den weitreichenden Implikationen dieses Rechts auseinandersetzen. Dieses eine Recht allein liefert schon mehr als genug Gründe dafür, an vielen Fronten aktiv zu werden. In Situationen der Knappheit, die wir selbst hervorrufen, ist die Realisierbarkeit des Rechts, nicht getötet zu werden, wichtig. Denn es kann keine absolute Pflicht geben, in solchen Situationen Menschen nicht zu töten, sondern nur eine Verpflichtung, nur mit gutem Grund zu töten. Solch eine Verpflichtung erfordert gründliche Überlegungen zu den Bedingungen und der Qualität des Lebens jener, die zu den Überlebenden gehören sollen. Die Moralphilosophie setzt sich mit diesem Problem nicht gerne auseinander. Dabei werden wir es bald vor Augen haben.

       2

      Rechte, Pflichten und der Hunger in der Welt21

       Hunger und Hungersnot

      Am Ende des 20. Jahrhunderts sind viele der Fakten zu Hunger und Armut in der Welt weltweit bekannt. Es sind dies u. a. die folgenden:

      1 Die Weltbevölkerung liegt bei 5 Milliarden Menschen und wächst rapide an. Gegen Ende des Jahrhunderts wird die 6-Milliarden-Grenze überschritten.22

      2 In vielen armen Ländern konzentrieren sich Investitionen und Wachstum auf den städtischen, stark modernisierten Sektor. Die sich ergebenden Verbesserungen kommen nur wenigen Menschen zugute.

      3 In vielen armen Ländern steigt die Zahl der Armen und Landlosen selbst in Zeiten an, in denen es Wirtschaftswachstum gibt.

      4 In vielen afrikanischen Ländern fallen regelmäßig die Ernten aus, was sie mehr denn je von Importgetreide abhängig macht.

      5 Die reichen Länder des „Nordens“ erzielten dagegen Getreideüberschüsse, die in die armen Länder gehen, normalerweise gegen Bezahlung.

      6 Die arme Landbevölkerung in der Dritten Welt leidet unter den Getreideimporten, die gewöhnlich in die Städte gehen. Das hat zur Folge, dass die Bauern keine Abnehmer für das von ihnen erzeugte Getreide finden. Daher wandern sie in die städtischen Elendsviertel ab.

      Und dann ist da noch Äthiopien. Hungersnöte sind keine urplötzlichen Naturkatastrophen, sondern einfach nur die extremste Form von Hunger. Wir wissen sehr gut, wo in der Welt Armut und Hunger so schlimm sind, dass selbst geringfügige Schwierigkeiten sofort zu Hungersnöten führen. In Äthiopien gab es schon früher Hungersnöte. Wir wissen, welche Regionen in Afrika, Asien und (in geringerem Maße) Lateinamerika dafür anfällig sind.

      Hungersnöte sind die Spitze des Eisbergs „Hunger“. Sie sind der Teil des Eisbergs, der öffentlich sichtbar wird und auf den wir reagieren. Doch der weit größere Teil des Leids ist stärker verborgen und springt weniger ins Auge.

      Die meisten Hungernden machen sich ja nicht lustlos auf den Migrationsweg oder warten auf die Lieferung von Hilfsgütern. Sie führen ein ganz normales Leben in ihrer normalen ökonomischen, sozialen oder familiären Situation. Sie verdienen und bauen an, was sie normalerweise verdienen und anbauen. Und doch sind sie immer arm und oft hungrig. Diese normalen Bedingungen sind viel weniger spektakulär als eine Hungersnot, betreffen aber sehr viel mehr Menschen. Wir erliegen regelmäßig der Versuchung, Hungersnöte von endemischem Hunger und endemischer Armut zu unterscheiden. Wir geben Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Dürren, Bränden