Gerechtigkeit über Grenzen. Onora O'Neill. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Onora O'Neill
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783532600481
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die dieses Prinzip fordert, zum Beispiel die Freiheit von Zwang. Denn ein grundlegendes Prinzip des Zwanges kann nicht von allen geteilt werden, da jene, die gezwungen werden, letztlich am Handeln gehindert werden und daher dieses Prinzip des Handelns nicht teilen können. Zwang, so könnten wir mit Kant sagen, ist nicht universalisierbar. Doch dieses Argument allein sagt uns noch nicht, was die Freiheit von Zwang in bestimmten Situationen erfordert. Offensichtlich schließt es viele Dinge aus, die auch die Beachtung der Freiheitsrechte ausschließt. So schließt das Prinzip der Freiheit von Zwang aus, dass wir andere töten, verletzen, angreifen und bedrohen. Dieses Spektrum von Pflichten, die sich aus dem Prinzip der Freiheit von Zwang ergeben, sind für die Wohlhabenden genauso bedeutsam wie für die Hungernden. Andere Aspekte dieses Prinzips sind hingegen hauptsächlich für die Hungernden von Belang. Wer also auf ein solches Prinzip abzielt, muss sich klar machen, dass es immer vergleichsweise einfach ist, jene zu zwingen, die schwach oder verletzlich sind, und zwar auch durch Aktivitäten, die für die wohlhabenderen oder mächtigeren Menschen keinerlei Zwang bedeuten würden.

      Wollen wir Zwang vermeiden, dann geht es dabei nicht um eine kurze Liste von Einmischungen in anderer Leute Tun, wie der Rechte-Ansatz uns dies nahelegt. Zwang zu vermeiden heißt sicherzustellen, dass wir in unserem Umgang mit anderen diesen den Raum lassen, die angebotenen Chancen und Möglichkeiten wahrzunehmen oder auch nicht. Dies zeigt auch, warum die Betonung der Pflicht, keinen Zwang auszuüben, so aussagekräftig ist, wo es um unseren Umgang mit den Armen und Schwachen geht: Sie sind nun einmal leichter zu etwas zu zwingen. Wir können ihnen mit größter Leichtigkeit „Angebote machen, die sie nicht ablehnen können“.27 Chancen, die unter Gleichgestellten durchaus echte Angebote darstellen können, die diese annehmen oder zurückweisen können, sind für die Bedürftigen und Schwachen bedrohlich oder eben nicht abweisbar. Wer verwundbar ist, kann durch ganz normale wirtschaftliche oder gesetzliche Maßnahmen Schaden erfahren: durch Geschäftsabschlüsse, die gefährliche industrielle Prozesse im Lebensraum der Armen installiert; durch massive politische Zugeständnisse, die für Investitionen oder angebliche Entwicklungshilfe gefordert werden; durch brutale wirtschaftliche Auflagen für „Entwicklungshilfe“ wie zum Beispiel unnötige Importe von der „Geber“-Nation.

      Arrangements dieser Art üben Zwang aus, selbst wenn sie nach außen hin den Regeln wirtschaftlichen und gesetzlichen Handelns gehorchen. Diese Regeln wurden für Parteien gemacht, die in etwa über dieselbe Machtfülle verfügen. Doch genügen sie unter Umständen nicht, um die Machtlosen zu schützen. Daher müssen sowohl Individuen als auch Institutionen wie Unternehmen und Regierungen (im Norden wie im Süden), aber auch Hilfsorganisationen hohe Standards erfüllen, wenn sie den Schwachen nicht durch ganz normale gesetzliche, diplomatische und wirtschaftliche Maßnahmen schaden wollen. Wirtschaftliche oder materielle Gerechtigkeit kann nicht erzielt werden, ohne darauf zu achten, dass institutionalisierte und individuelle Formen des Zwangs vermieden werden.

      Eine zweite grundlegende Pflicht der Gerechtigkeit ist die, auf Täuschung zu verzichten. Auch ein Prinzip der Täuschung wäre nicht universalisierbar, weil die Opfer eines Betrugs – wie die Opfer von Zwang – letztlich daran gehindert werden, das Handlungsprinzip des Täters zu teilen, das ihnen ja verborgen bleibt. Da die Pflicht zur Freiheit von Täuschung jedoch für alles öffentliche und politische Leben von Belang ist und nicht nur für die Armen, die Hungernden und die Schwachen gilt (auch wenn sie am leichtesten zu täuschen sind), werde ich mich mit diesem Prinzip hier nicht weiter beschäftigen.

       Pflichten: Nothilfe, Entwicklung und Respekt

      In einem Rahmen, in dem Rechte als grundlegend gelten, werden all unsere moralischen Pflichten unter der Überschrift „Gerechtigkeit“ subsumiert. Ein Pflichtenansatz vom Kantischen Typ hingegen kann auch Verpflichtungen rechtfertigen, die keine Gerechtigkeitspflichten sind und deren Erfüllung nicht als Recht eingefordert werden kann. Manche Arten von Handlungen können nicht für alle anderen vollzogen werden, daher können sie keine universelle Pflicht sein oder entsprechende Rechte begründen. Und doch sind sie nicht von einer bestimmten Beziehung abhängig, sodass sie auch nicht zum Gegenstand einer speziellen, institutionellen Pflicht werden können. Nichtsdestotrotz können sie eine Pflicht darstellen. Eine Theorie der Pflichten ermöglicht – anders als eine Theorie der Rechte – auch „unvollkommene“ Verpflichtungen, die sich nicht bestimmten Trägern zuordnen lassen und daher nicht eingefordert werden können.

      Dies eröffnet uns einen weiteren Weg, wie wir Bedürfnisse sinnvoll in eine Theorie menschlicher Pflichten einbinden können. Wir wissen, dass Bedürftige schwach sind und sich nicht selbst helfen können. Daraus folgt: Selbst wenn sie nicht gezwungen werden, sind sie unter Umständen unfähig zu handeln und damit nicht in der Lage, jetzt und in der Zukunft autonom zu agieren aufgrund von Prinzipien, die sich universell teilen lassen. Ist unsere grundlegende Verpflichtung aber die, andere als Akteure zu behandeln, die dieselben Prinzipien verfolgen können, die unser Handeln leiten, dann müssen wir uns zu Strategien und Maßnahmen verpflichtet fühlen, die ihnen jetzt und in Zukunft erlauben, selbstbestimmte Akteure ihres Lebens zu bleiben. Handeln wir anders, dann sehen wir andere nicht als selbstbestimmte Elemente, wie wir selbst es sind. Doch niemand, auch kein Akteur, kann alles tun, um die Autonomie der anderen zu garantieren. Daher kann die Pflicht zur Hilfe niemals die Verpflichtung sein, alle Bedürfnisse zu erfüllen. Sie kann in der Pflicht bestehen, unser Leben nicht auf Prinzipien zu gründen, die anderen und ihren Bedürfnissen schaden bzw. sie außer Acht lassen oder welche Dinge auch immer, die ihnen helfen, ihre Akteurschaft aufrechtzuerhalten. In manchen Situationen erfordern solche „unvollkommenen“ Pflichten ganz spezifische und anstrengende Bemühungen. Die Tatsache, dass wir nicht allen helfen können, zeigt nur, dass wir nicht die Pflicht haben, jedem zu helfen, und nicht, dass wir keine Verpflichtung haben, niemandem zu helfen.

      Wenn wir die Anforderung, die Autonomie der anderen aufrechtzuerhalten, nicht gleichgültig übersehen oder vernachlässigen, werden wir, meiner Ansicht nach, in unserem Umgang mit den Armen und Schwachen eine Verpflichtung eingehen, die sich nicht nur auf Gerechtigkeit bezieht, sondern auf verschiedene weitere Prinzipien. Erstens werden wir uns verpflichtet sehen zu materieller Hilfe, die sie in die Lage versetzt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Wir helfen den Menschen damit, die Armutsschwelle zu überwinden, unterhalb derer autonomes Handeln nicht oder nur in sehr geringem Maße möglich ist. Da wir, wenn Armut und Abhängigkeit sich nicht endlos fortschreiben sollen, dauerhafte und systematische Hilfe brauchen, umfasst dies auch die Verpflichtung zu sinnvollen Entwicklungshilfestrategien und Nahrungsmittelhilfslieferungen.

      Hilfe, auf die kein Verlass ist, kann nicht für Autonomie sorgen. Und selbstverständlich führt auch der Verzicht auf Hilfslieferungen in Notfällen nicht zu mehr Autonomie. Da menschliche Bedürfnisse stets wiederkehrende sind, reicht die bloße Nahrungsmittelhilfe nicht aus. Essen verzehrt man, dann ist es weg. Hilfe kann die Handlungsfähigkeit der Armen nur dann sichern, wenn sie soziale und ökonomische Institutionen schafft, die die menschlichen Bedürfnisse langfristig erfüllen. Das bedeutet, dass Hilfe für die Armen und Schwachen auf nachhaltige Produktion setzen muss, damit auch nach dem Abflauen eines Konsumzyklus noch etwas in der Pipeline ist. Soll Entwicklungshilfe wirklich relevant sein, kann sie sich nicht nur auf ökonomische Eingriffe stützen, sondern muss dafür sorgen, dass durch Bildung und institutionellen Wandel menschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten gefördert werden, die den Armen und Schwachen helfen, die Kontrolle über ihr Leben zu erlangen.

      Da die Grundlage für diese Pflichten der Anspruch ist, dass Handlungsmaximen von allen gleichermaßen geteilt werden können, darf die Entwicklungshilfe die Fähigkeiten anderer zum selbstbestimmten Handeln nicht einschränken oder beschädigen. Sie darf nicht daran scheitern, dass den Hilfsbedürftigen nicht der nötige Respekt erwiesen wird. Die Helfer müssen die Wünsche und Ansichten der Hilfsbedürftigen erkunden und achten. Die Fähigkeit zu einem selbstbestimmten Leben wird nicht gefördert, wenn die Armen die „Gebenden“ als neue Herren erleben. Die Autonomie der Menschen stellt sich nicht ein, wenn man ihnen das Gefühl gibt, Opfer guter Werke zu sein.

       Schlussfolgerungen und nachträgliche Einfälle

      Die Theorie der Pflichten, die ich hier kurz skizziert habe, ist den