Kapitel 13, „Gesundheitswesen oder Medizinethik: über Grenzen hinaus gedacht“, untersucht, was es uns kostet, dass die zeitgenössische Medizinethik sich ausschließlich auf die Arzt-Patient-Beziehung konzentriert, auf Aufklärungsgespräche und Einwilligungserklärungen und auf die gerechte Verteilung von gesundheitlichen Leistungen auf Einzelpersonen. Diese Perspektive verdrängt Themen, die die öffentliche Gesundheit betreffen bzw. die Gesundheit ärmerer Gesellschaften und andere wichtige globale Gesundheitsfragen, vollkommen aus dem Blickfeld. Eine angemessene Bioethik des Gesundheitswesens muss in der politischen Philosophie verankert sein, nicht nur in der Ethik. Und sie muss einen realistischen Blick dafür entwickeln, wie staatliche und nicht-staatliche Akteure die öffentliche Gesundheit stärken können. Dementsprechend kann weder die individuelle Autonomie noch eine Patienteneinwilligung nach Aufklärung ein sicheres Fundament für die Ethik der Gesundheit bieten.
Kapitel 14, „Erweiterung der Bioethik: Medizinethik, öffentliche Gesundheit und globale Gesundheit“, untersucht, ob Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens wirklich „globale öffentliche Güter“ sind, an denen jeder ein Interesse hat. Dort wird argumentiert, dass viele Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens, auch solche, die auf bestimmte Gruppen abzielen, positive externe Effekte haben können. Trotzdem sind sie keine genuin globalen Güter.
* * *
Die hier vorgelegten Aufsätze kritisieren bestimmte Auffassungen von den Menschenrechten, doch sie gehen davon aus, dass diese Rechte für die Gerechtigkeit von entscheidender Bedeutung sind. Dabei kritisiere ich vor allem jene Konzeptionen von Menschenrechten, die sich über die Akteure, denen die Gerechtigkeit überantwortet wird, nicht weiter auslassen bzw. über deren spezifische Pflichten. Konzeptionen, die all diese Pflichten ungeprüft den Staaten anlasten. In meinen Augen nehmen wir die Rechteperspektive nicht ernst genug, wenn wir nicht zeigen, wer genau was für wen tun soll. Und die Pflichten, die wir ausschließlich dem Staat zuweisen, sind typischerweise solche zweiter Ordnung, zu deren Umsetzung es andere personelle oder institutionelle Akteure braucht. Mir ist nur zu klar, dass die vielen Kollegen, Studenten und Zuhörer, denen ich diese Gedanken vorgetragen habe, meines Refrains mittlerweile vielleicht überdrüssig sind, aber ich bleibe in dieser Hinsicht unbußfertig.
1
Rettungsboot Erde9
Wenn in einigermaßen naher Zukunft viele Millionen Menschen verhungern werden, kann man den Überlebenden dann die Schuld an deren Tod geben? Gibt es etwas, was die Menschen heute bzw. von heute an tun müssten, wenn sie vermeiden wollen, für nicht zu rechtfertigende Todesfälle in den künftigen Hungerjahren verantwortlich gemacht zu werden? Meine Argumentation geht von der Annahme aus, dass jeder Mensch das Recht hat, nicht ungerechtfertigt getötet zu werden, und erhebt daran anschließend den Anspruch, dass wir die Pflicht haben, Hungertode ganz zu verhindern oder hinauszuschieben. Ein Nebeneffekt dieses Anspruchs ist es, dass wir durchaus Verantwortung tragen, zumindest für einige dieser Todesfälle, falls wir untätig bleiben.
Gerechtfertigtes Töten
Ich gehe von der Annahme aus, dass Menschen ein Recht haben, nicht getötet zu werden, und folglich auch die Pflicht, nicht zu töten. Über weitere Rechte, die Menschen unter Umständen haben, sollen hier keine Aussagen getroffen werden. Insbesondere setze ich nicht voraus, dass Menschen gegen andere, die ihren Tod verhindern könnten, das Recht haben, dass man sie nicht sterben lässt, bzw. die Pflicht, den Tod anderer Menschen zu verhindern, wann immer sie dies leisten könnten. Doch ich werde auch nicht annehmen, dass der Mensch dieses Recht nicht hat.
Selbst wenn Menschen nur dieses eine Recht besitzen, nicht getötet zu werden, kann dieses Recht unter bestimmten Umständen gerechtfertigterweise außer Kraft gesetzt werden. Nicht jede Tötung ist ungerechtfertigt. Ich werde mich insbesondere mit zwei Situationen auseinandersetzen, in denen das Recht, nicht getötet zu werden, mit vollem Recht außer Kraft gesetzt wird. Es sind dies erstens der Fall eines unvermeidbaren Todes, zweitens der der Notwehr.
Zu solch unvermeidbaren Todesfällen kommt es in Situationen, in denen das Handeln eines Menschen den Tod eines oder mehrerer anderer Menschen bewirkt, dies aber nicht verhindern kann. Solche Todesfälle geschehen zum Beispiel, wenn der, der den Tod eines anderen verursacht, sich zum Zeitpunkt seiner Entscheidung zu handeln, wie er gehandelt hat, einiger wichtiger Umstände nicht bewusst ist. Wenn B einen Zug lenkt, A auf den Gleisen herumstolpert und von B nicht oder zu spät erkannt wird, sodass B den Zug nicht mehr stoppen kann, dann tötet B Person A. Aber B hätte nicht verhindern können, A zu töten, hatte er sich doch für das Fahren des Zugs entschieden. Eine andere Form unvermeidbarer Tötung stellt sich dar, wenn B vermeiden kann, entweder A zu töten oder C, aber nicht beide. Ist B zum Beispiel Träger ein hoch ansteckenden und unweigerlich zum Tode führenden Krankheit, dann könnte er in eine Lage geraten, in der er einer Begegnung mit A oder C nicht aus dem Weg gehen kann. Er müsste also A oder C töten und sich entscheiden, wen er trifft. In diesem Fall hängt die Unvermeidbarkeit von B’s Tötungshandlung nicht von einer früheren Entscheidung B’s ab. Die Fälle unvermeidlicher Tötung, mit denen ich mich hier beschäftigen möchte, gehören zu der letzteren Kategorie. Und ich werde darlegen, dass in solchen Fällen B gerechtfertigt tötet, wenn bestimmte weitere Bedingungen erfüllt sind.
Eine Tötung mag ebenso gerechtfertigt sein, wenn sie zur Selbstverteidigung geschieht. Ich werde hier nicht darlegen, dass Menschen ein Recht auf Selbstverteidigung haben, das unabhängig ist von ihrem Recht, nicht getötet zu werden. Vielmehr gehe ich davon aus, dass das Recht auf Selbstverteidigung mit der geringstmöglichen Wirkung als logische Folge aus dem Recht entsteht, nicht getötet zu werden. Daher ist das Konzept der Selbstverteidigung, auf das ich mich hier stütze, in gewisser Weise anders und enger gefasst als andere Interpretationen dieses Rechts. Ich werde ebenfalls belegen, dass, wenn A das Recht hat, sich gegen B zu verteidigen, eventuellen Dritten die Pflicht zufällt, A’s Recht ebenfalls zu verteidigen. Wenn wir das Recht, nicht getötet zu werden, mit all seinen logischen Folgen ernst nehmen, dann müssen wir auch für das Recht anderer, nicht getötet zu werden, eintreten.
Das Recht auf Selbstverteidigung, das sich als logische Konsequenz aus dem Recht ableitet, nicht getötet zu werden, verleiht einem auch das Recht, aktiv zu werden, um die Tötung anderer zu verhindern. Habe ich das Recht, nicht getötet zu werden, dann habe ich auch das Recht, andere daran zu hindern, mein Leben zu gefährden. Das Recht, dabei deren Leben zu gefährden, habe ich nur, wenn dies der einzige Weg ist, die Gefahr für mein Leben abzuwenden. Daraus, dass ein anderer das Recht besitzt, nicht getötet zu werden, folgt gleichfalls, dass ich, soweit möglich, aktiv werden sollte, um andere daran zu hindern, sein Leben in Gefahr zu bringen. Deren Leben darf ich dabei jedoch nur gefährden, wenn dies die einzige Möglichkeit ist, sein Leben zu retten. Die Pflicht, andere zu verteidigen, ist keine allgemeine Verpflichtung, sich für das menschliche Wohl einzusetzen, sondern eine sehr begrenzte Pflicht, das Recht anderer, nicht getötet zu werden, zu sichern.
Das Recht auf Selbstverteidigung ist also recht begrenzt gedacht. Es verleiht niemandem das Recht, gegen andere vorzugehen, die uns schaden oder höchstwahrscheinlich schaden werden, wenn dieser Schaden unser Leben nicht gefährdet. (In bestimmten Fällen allerdings ist dieses Recht nicht immer so klar. Das Leben des Ladenbesitzers, der, von einem Räuber mit einer Spielzeugpistole in Schach gehalten, sich mit einem Schuss aus einer echten Pistole verteidigte, war nicht in Gefahr. Doch er hatte vernünftige Gründe anzunehmen, dass er in Gefahr schwebte.) Und es umfasst wirklich nur die geringstmögliche Vorbeugung gegenüber demjenigen, der unser Leben bedroht. Wenn B dem A mit