Verstöße gegen das Recht, nicht getötet zu werden, stellen wir uns meist so vor, wie sie in den Vereinigten Staaten von heute so häufig diskutiert werden: eine Konfrontation zwischen Einzelpersonen, bei denen einer direkt, gewaltsam und absichtlich den Tod des anderen verursacht. Doch wie die Rettungsboot-Situationen zeigen, gibt es auch andere Möglichkeiten, um uns gegenseitig umzubringen. Auf jeden Fall können wir unseren Blickwinkel nicht auf den typischen Raubüberfall- oder Mord-Kontext verengen. B verstößt auch gegen A’s Recht, nicht getötet zu werden, wenn:
a) B nicht allein handelt.
b) A’s Tod nicht sofort erfolgt.
c) es nicht sicher ist, ob A infolge von B’s Handlungen stirbt.
d) B den Tod von A gar nicht beabsichtigt hat.
Folgende Beispiele sollen diese Punkte veranschaulichen:
aa) A wird von einer Gang zusammengeschlagen, die aus B, C, D et cetera besteht. Keiner der Angreifer tötete A durch seine individuelle Tat, doch sein Recht, nicht getötet zu werden, wird von allen verletzt, die an der Prügelei teilgenommen haben.
bb) A wird langsam durch Verabreichung von kleinen täglichen Dosen Gift getötet. Die letzte Dosis war, wie die vorhergehenden, nicht für sich allein genommen tödlich. Doch die Person, die A vergiftet hat, hat A’s Recht, nicht getötet zu werden, trotzdem verletzt.
cc) B spielt Russisches Roulette mit A, C, D, E, F und G. Er feuert je einmal auf diese Personen und weiß, dass ein Schuss von sechs tödlich sein wird. Wenn A angeschossen wird und stirbt, hat B dessen Recht, nicht getötet zu werden, verletzt.
dd) Heinrich II. fragt, wer ihn von diesem lästigen Priester erlösen kann, und seine Anhänger töten Becket. Es ist klar, dass Heinrich Beckets Tod nicht beabsichtigt hat, wohl aber war er, wie er später zugeben sollte, teilweise dafür verantwortlich.
Diese Erläuterungen zum Recht, nicht getötet zu werden, sind für sich genommen nicht allzu kontrovers angelegt und ich würde annehmen, dass auch der Zusammenhang nicht strittig ist. Selbst wenn A’s Tod Resultat des Handelns mehrerer Personen ist und keine unmittelbare Folge dieses Handelns, ja noch nicht mal eine gesicherte Konsequenz, und selbst wenn dieser Tod von den Handelnden nicht beabsichtigt war, so mag dadurch A’s Recht, nicht getötet zu werden, verletzt werden.
Erste Klasse versus Zwischendeck auf dem Rettungsboot Erde
Stellen wir uns nun vor, auf einem Rettungsboot gäbe es ein besonderes Deck für die Erste-Klasse-Passagiere, und Wasser sowie Proviant für alle Passagiere wären auf diesem Deck untergebracht. Damit hätten wir ein klares, wenn auch grobes Modell der aktuellen Situation auf dem Rettungsboot Erde. Denn selbst wenn wir annehmen, dass genug da ist, um das Überleben aller zu sichern, so haben doch einige Passagiere die Kontrolle über die Mittel zum Überleben und so indirekt über das Überleben anderer. Manchmal führt das Ausüben dieser Kontrolle, selbst auf einem gut ausgerüsteten Rettungsboot, dazu, dass einige der Passagiere, denen es an dieser Kontrolle fehlt, Hunger leiden oder sterben. Auf einem schlecht ausgestatteten Rettungsboot müssen in jedem Fall einige Insassen sterben, und wie wir bereits gesehen haben, sind einige dieser Fälle als Tötung zu betrachten, wenn auch aus unter Umständen gerechtfertigten Gründen. Ähnliche Situationen können und werden sich auch auf dem Rettungsboot einstellen, soweit das nicht schon der Fall ist. Diesen Fragen sollten wir uns zuwenden und dabei sowohl die gegenwärtige Situation untersuchen, in der die Mittel für das Überleben aller angeblich ausreichen, wie auch die künftige Lage, für die man global mit einem nicht mehr ausreichend ausgestatteten Rettungsboot rechnet.
Situationen ohne Knappheit
Auf einem gut ausgerüsteten Rettungsboot ist jede Verteilung von Nahrung und Wasser, die einen Todesfall herbeiführt, als Tötung zu betrachten und nicht nur als ein Fall von „Sterbenlassen“. Denn die Handlungen jener, die die Nahrungsmittel- und Wasservorräte verteilen, sind Ursache eines Todes, der nicht eingetreten wäre, hätten diese Akteure entweder keinen ursächlichen Einfluss ausgeübt oder ganz anders gehandelt. Im Gegensatz dazu hätte man einen Menschen, den man im Wasser zurückgelassen hat, damit er ertrinkt, nur sterben lassen, denn sein Tod wäre (wenn alle übrigen Umstände gleich sind) ohne ursächliche Handlung dieser Akteure eingetreten, obwohl er hätte verhindert werden können, hätte man ihn aus dem Wasser gezogen.12 Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen, wie er hier konstruiert wird, hängt nicht von irgendwelchen Prämissen in Bezug auf die anderen Rechte der Getöteten ab. Der Tod des geprellten Passagiers von Beispiel 1B hat seine Eigentumsrechte ebenso verletzt wie sein Recht, nicht getötet zu werden, aber der Grund dafür, dass sein Tod als Tötung einzustufen ist, ist darin zu suchen, inwiefern die Handlungen der anderen Personen ihn verursacht haben. Wenn wir davon ausgehen, dass ein blinder Passagier auf einem Rettungsboot keinen Anspruch auf Nahrung und Wasser hat und ihm beides verweigert wird, dann werden seine Eigentumsrechte dadurch nicht verletzt. Trotzdem wird er, wenn man obige Definitionen anwendet, getötet und nicht einfach nur sterben gelassen. Denn wenn die anderen Passagiere keinen ursächlichen Einfluss ausgeübt oder anders gehandelt hätten, wäre sein Tod nicht eingetreten. Ihre Handlungen – in diesem Fall: Nahrung nur an jene zu verteilen, die ein Anrecht darauf haben – haben den Tod des blinden Passagiers verursacht. Dieses Tun wäre nur dann gerechtfertigt, wenn Eigentumsrechte in manchen Fällen das Recht, nicht getötet zu werden, außer Kraft setzen würden.
Nun würde so mancher natürlich vorbringen, dass die Situation auf dem Rettungsboot Erde nicht analog zu der auf normalen Rettungsbooten ist, da es ja nicht selbstverständlich ist, dass wir alle einen Anspruch auf die Ressourcen der Erde haben, geschweige denn einen gleichwertigen Anspruch. Vielleicht sind einige von uns ja blinde Passagiere. Ich werde hier nicht den Ansatz verfolgen, dass wir alle einen Anspruch auf die planetaren Ressourcen haben, obwohl ich denke, es wäre plausibel, das anzunehmen. Ich gehe vielmehr davon aus, dass, selbst wenn Menschen ungleiche Eigentumsrechte besitzen und manche Menschen gar nichts haben, daraus nicht hervorgeht, dass B’s Ausübung seiner Eigentumsrechte A’s Recht, nicht getötet zu werden, außer Kraft setzen kann.13 Wo unser Tun zum Tod eines anderen Menschen führt, der nicht eingetreten wäre, hätten wir anders gehandelt oder keinen ursächlichen Einfluss ausgeübt, kann die Berufung auf unsere Eigentumsrechte nicht genügen, um uns vom Vorwurf der Tötung freizusprechen.
Es ist keineswegs weit hergeholt anzunehmen, dass gegenwärtige ökonomische Aktivitäten verschiedener Gruppierungen zum Tod anderer Menschen führen. Ich werde einige Beispiele für Aktivitäten anführen, die in diese Kategorie fallen, aber damit ist nur die Spitze des Eisbergs genannt. Keines dieser Beispiele hängt davon ab, dass wir die Existenz ungleicher Eigentumsrechte infrage stellen. Sie setzen nur voraus, dass diese Rechte das Recht, nicht getötet zu werden, nicht aufheben. Bei keinem der Beispiele ist es plausibel, die Tötung als Akt der Selbstverteidigung anzusehen.
Den ersten Fall könnte man mit Auslandsinvestitions-Fall überschreiben. Eine Gruppe von Investoren gründet ein Unternehmen, das im Ausland investiert – zum Beispiel in eine Plantage oder eine Mine. Das Unternehmen wird so geführt, dass ein Großteil der Gewinne ins Ursprungsland rückgeführt wird. Die Löhne für die Arbeiter im Ausland aber sind so gering, dass ihre Überlebenschancen sinken. Ihre Lebenserwartung ist also niedriger, als sie es wäre, hätte das Unternehmen nicht in diesem Land investiert. In solch einem Fall werden Investoren und Management nicht allein tätig, sind nicht unmittelbar für die Todesfälle verantwortlich und wissen auch nicht im Voraus, wer sterben wird. Vermutlich beabsichtigen sie die Tötung noch nicht einmal. Aber durch ihre Beteiligung an der Volkswirtschaft eines unterentwickelten Landes können sie nicht behaupten, dass sie ja „nichts tun“, wie es ein Unternehmen könnte, das dort nicht investiert. Ganz im Gegenteil, sie bestimmen ja über die Strategien, die den Lebensstandard der Arbeiter festlegen und damit auch deren Überlebenschancen. Wenn Menschen sterben, weil ein die lokale Wirtschaft beherrschendes