Frühere Perioden hatten darauf bestanden, dass die kosmische Ordnung (Ṛta) durch regelmäßige und präzise Opferungen aufrecht erhalten wird. Doch neuerdings war die hauptsächliche Verbindung des Menschen mit dem Göttlichen die frisch entdeckte All-Seele. Da jedes Wesen mit einem Selbst (Ātman) ausgestattet ist, kann es sich an seine Verbindung mit dem All-Selbst, Brahman, erinnern und schließlich dahin zurückkehren. Dieses Erinnern und Erkennen wurde zur wichtigsten spirituellen Disziplin. Wir befinden uns an den Wurzeln der Suche nach Befreiung. Brahman zu erkennen und damit eins zu werden, bedeutet alle Form, Namen, Rang und persönliche Geschichte zu verlieren. Wer ins All-Selbst eingehen will, muss das persönliche Selbst loslassen. Die frühen vedischen Priester versuchten die kosmische Ordnung aufrecht zu erhalten, waren aber nicht an einer Auflösung im All-Selbst interessiert. Die Verfasser der Upaniṣaden begannen Opferungen als etwas Nebensächliches anzusehen; der Gegenstand ihrer Suche war die Befreiung von der begrenzten menschlichen Existenz durch das Einswerden mit dem Bewusstsein, aus dem Alles entsteht. Und genau hier kommen wir noch einmal zum Thema Transzendenz zurück.
Der Wandel von vedischer zu upaniṣadischer Religion verschiebt den Schwerpunkt von den Riten für die Kriegerklasse zu denen der Brahmanen, Asketen und Weltverweigerer. Wo es vorher nur möglich war, die absolute Transzendenz durch eine Eroberungsfahrt in und durch die Sonne zu erreichen, wurde es jetzt möglich, beim Sterben nach Innen zu gehen. Das Brahman, so lesen wir in den Upaniṣaden, ist nicht nur im jenseitigen Himmel, sondern vor allem in uns selbst zu finden. Wir haben also ein allumfassendes Universalbewusstsein, und gleichzeitig in unserem Inneren einen Ableger davon. Dabei wurde eine neue Idee eingeführt: Im Inneren des Körpers ist das Herz, und dieses ist ein Raum der absoluten Leere. In dieser Leere erscheint das wirkliche Selbst, welches daumengroß oder noch kleiner ist. An diesem Punkt gab es eine Menge unterschiedlicher Ideen, so z. B. bei den Anhängern des immer populärer werdenden Viṣṇu, die davon ausgingen, dass Brahman eben Viṣnu und daher dieses Selbst wären. In anderen Texten begegnen wir diesem Selbst als dem Puruṣa oder als Śiva. Oft wurde das Selbst auch als Emanation der Sonne betrachtet, als eine kleine Sonne, die im Inneren leuchtet. Wie dem auch sei, der Sterbende hatte die Möglichkeit, die Eroberungsfahrt nach innen anzutreten, und dabei absolute Befreiung zu gewinnen. In diesem Prozess, der durchaus meditative Züge in sich trägt, wurde weiterhin die Eroberungsterminologie des vedischen Yoga verwendet. Statt den Zügeln/Lichtstrahlen der Sonne zu folgen, folgte man jetzt den Lichtstrahlen, die vom Herz zur Schädeldecke führten, durchbohrte diese und löste sich im Allbewusstsein auf. Und damit haben wir einen Vorgeschmack auf all die späteren Reisen zur Transzendenz, wie sie z. B. bei der Erweckung der Kuṇḍalinī vorkommen. Die Lichtbahn zur Sonne wurde mit der Lichtbahn durch die Schädeldecke gleichgestellt. Man könnte dieses willentliche Sterben, oder auch seine meditative Vorwegnahme, natürlich als Yoga bezeichnen.
Das wäre allerdings nicht passend, denn in der späten Upaniṣadenzeit taucht der Yogī zwar auf, ist aber nicht im Geringsten an meditativen, spirituellen oder introvertierten Praktiken interessiert. Vielmehr ist ein Yogī entweder ein gefährlicher Zauberer, dessen Hauptinteresse darin liegt, magische Kräfte zu gewinnen, und dessen gefürchtetster Zauber darin besteht, sich mit anderen Personen oder Tieren ‚zusammenzuschirren‘ oder ‚anzujochen‘, in deren Körper einzudringen und dann deren Leben zu genießen. Dabei geht es oft um reichlich primitive Machtvorstellungen und völlig materielle Ziele: wie White (2011) deutlich macht, wird von keinem der frühen Yogīs erwähnt, er hätte sich jemals mit Āsana, Atemkontrolle, Introversion, Ethik oder irgend einer meditativen Technik beschäftigt. Doch das Zusammenschirren mit anderen konnte auch zur Initiation verwendet werden, und diese Idee lebte in verschiedenen tantrischen Richtungen auf: der Guru ‚durchbohrt‘ den Schüler durch die Augen oder eine andere Öffnung und fließt in goldenem Glanz in diesen hinein, um dessen Bewusstsein nach oben, zur Transzendenz zu tragen. Es werde auch Situationen erwähnt, in denen große Yogīs zeitweilig in den Köper von Personen eindrangen, um diese mit ihrem Wissen, ihrer Kraft und ihren magischen Fähigkeiten auf dem Schlachtfeld oder in Notsituationen zu unterstützen.
Manche Yogīs jochten sich auch mit Göttern zusammen, drangen in diese ein, und versuchten sie, mit mehr oder weniger großem Erfolg, zu beherrschen. All diese Themen werden von White genau behandelt. Die andere Sorte Yogī der Upaniṣadenzeit ist ein Möchtegernzauberer, der mit Tricks, Betrug, Bettelei, kleinen Zaubereien und Erpressung sein Leben fristet. Manche von ihnen dienten auch als reisende Spione. Wir erleben also mit der Entstehung der Upaniṣaden eine Welle neuer, nach innen gerichteter Spiritualität, die allerdings nur von Sehern, Einsiedlern, Entsagern und Asketen ausgeübt wird. Noch hatten die Yogīs nichts damit zu tun.
Mit der Entwicklung der Upaniṣaden taucht eine dramatische Neubewertung der Existenz auf. Diese erscheint in zwei radikal neuen Ideen: Wiedergeburt und Karman.
Wie die Wiedergeburt entdeckt (oder erfunden) wurde, bleibt ungeklärtes Rätsel. Wiedergeburt ist möglich, da jedes Lebewesen eine inkarnierte Form von Brahman darstellt und daher unsterblich ist. Körper kommen und gehen, aber das eine Bewusstsein besteht durch alle Zeitalter. Bisher wurde die Idee von Indologen einfach als ein innovativer neuer Durchbruch betrachtet. Es gibt allerdings eine Reihe von neueren Studien, in denen Bronkhorst die Ansicht vertritt, diese Ideen könnten in der östlichen Gangesebene entwickelt worden sein, in einer Gegend, die er als Größeres Magadha bezeichnet. Entweder sie wurden schon recht früh erfunden, oder sie waren dort schon in der Vorzeit vertreten. Diese Ideen vermischten sich mit der späten vedischen Religion, und aus der Verbindung könnte die Denkweise der Upaniṣaden hervorgegangen sein. Im Raum um Magadha stoßen wir schon in den frühesten Überlieferungen auf Konzepte wie Karman und Wiedergeburt. Und damit betrat der offizielle indische Glauben echtes Neuland. In vedischen Zeiten gab es ein paar schlecht definierte Anderswelten, einige Paradiese der Götter und einige vage Höllen, in die manche Menschen nach dem Tod kommen konnten. Diese waren zunächst nicht besonders genau beschreiben, aber die Brāhmaṇas entwickelten das Thema weiter. An irgendeinem Punkt begann sich dies zu ändern.
Für manche Autoren blieben die Anderswelten bestehen, aber sie wurden lediglich zu Übergangspunkten. Zum Beispiel erklärt die Kauṣītakī Brāhmaṇa Upaniṣad 1, 2, dass die Seelen nach dem Tod zum Mond gehen. Jene, die den Mond als Himmelstür verstehen und wissen, ‘wie man darauf antwortet’, können zu den höheren Reichen aufsteigen. Diejenigen, die es nicht können, kehren als Regen zur Erde zurück und werden als Tiere oder Menschen wiedergeboren. Damit sind wir am Anfang eines von mehreren Wiedergeburtsmodellen. Die Upaniṣaden entwickelten das Thema immer weiter; sie hatten noch nicht den Konsens erreicht, der im frühen Hinduismus auftauchte. Wie die Idee der Wiedergeburt auch immer aufkam, sie war sicher nützlich. Einerseits nahm sie den Gläubigen viel von der Angst vor dem Tod. Andererseits stabilisierte sie die gesellschaftliche Ordnung.
In einer Gesellschaft, die immer starrer wurde, muss sich so mancher gefragt haben, was für einen Sinn das alles haben sollte. Eine feste Unterteilung in Klassen ist nun mal eine Sache, die viele ganz schön unfair trifft. Vielleicht ist die Idee, dass die Dinge im nächsten Leben besser werden, ein kleiner Trost für diejenigen, die unten am Boden sind. Dasselbe kann man über die Idee sagen, dass Dein gegenwärtiges Elend kein Schicksal, sondern Deine eigene Schuld ist. In diesem Sinne wurde die Reinkarnation zu einem bequemen Beruhigungsmittel für diejenigen, die mit dem Klassensystem unglücklich waren. Gleichzeitig fühlten sich die Reichen und Mächtigen dadurch geschmeichelt, denn schließlich hatten sie sich ihren Wohlstand ja in anderen Leben durch gute Taten verdient. Der Wiedergeburtsglauben lieferte eine Philosophie, die die Leute mehr oder weniger dort hielt, wo sie sein sollten. Diese Denkweise verringert die soziale