Der ṚV erwähnt auch Göttinnen, die die weibliche Manifestation von männlichen Göttern sind. Gattinnen von Helden, Göttinnen, mit heilen Flügeln mögen sie zu uns kommen, mit großem Schutz und Hilfe. Indrānī, Varuṇānī und Agnāyī lade ich hierher ein, zum Wohle, den Soma-Saft zu trinken. (ṚV 1, 22, 12-13) Diese Idee war die Grundlage eines späteren Konzeptes der Śakti. Wir sind hier am Beginn einer Tradition, die es den Göttern ermöglicht, in das andere Geschlecht zu wechseln. Dieses Thema wurde im Śāktismus und in manchen Bereichen des Tantra noch wesentlich ausgebaut.
Am Ende wollen wir einen Blick auf den Außenseiter unter den Göttern werfen, den gefährlichen Rudra. Rudra erhielt weniger Verehrung als die anderen Götter. Nur drei Hymnen im ṚV sind ihm allein gewidmet. Sein Ursprung wird immer noch diskutiert, und sein Name hat bisher jeder verlässlichen Deutung widerstanden. Er ist ein schrecklicher roter Gott, ein tödlicher Bogenschütze und ‘der fahle Keiler des Himmels’, der beständig gebeten wird, freundlich und mitfühlend zu sein. Seine Hymnen beschwören nicht, sondern beschwichtigen. Der ursprüngliche Rudra ist ein Bewohner der Berge und der Wildnis, ein einsamer Wanderer, er ist der Herr der wilden Tiere, der Gifte und der Krankheiten. Als Experte für Kräuterkunde ist er auch ein Heiler der Götter. Er ist der Schöpfer, Beschützer und Schlächter der Rinder. Mit Pfeil und Bogen nimmt er Tieren und Menschen das Leben. Vom Soma-Opfer wurde er ausdrücklich ausgeschlossen.
Als Vater der Maruts wird Rudra von Stürmen und Böen begleitet. Die Maruts (Winde) sind normalerweise Indras Krieger, doch ihre Eltern sind Rudra und Pṛśṇi, die bunte Kuh der Erde und des weiten Himmels. Die Maruts werden als Wunderwirker, Barden, Helden und Beschützer der göttlichen Ordnung gefeiert. Sie ziehen über die Erde wie die heulenden Sturmböen, zersplittern Berge, schütteln Wälder und setzen Sturm, Blitz, Donner und Regen frei. Sie sind die Förderer der Dichter und Sänger. Ihre gemeinsame Frau ist Rodasī (Firmament), die an anderer Stelle als Frau von Rudra auftaucht. Gelegentlich werden die Maruts als Rudras angesprochen, d.h. als Personifizierungen Rudras.
In der spätvedischen Epoche begegnen wir Rudra in Fell gekleidet, auf wüsten Bergen wohnend, mit langem, verworrenen grünem Haar, einem roten Gesicht und einem blauschwarzen Hals. Er wird von Jägern angerufen, von Leuten, die sich in den Wald wagen müssen, und von Hirten, die um die Gesundheit ihrer Rinder fürchten. Seine Söhne Bhava und Śarva durchstreifen die Dschungel in Gestalt von Wölfen. Ganz wie der germanische Sturmgott Wodan erscheint Rudra in einer wilden Jagd und wird von einer Horde gefährlicher Frauen begleitet, die lärmen, zischen und fauchen; Zerreißer und Verschlinger von Fleisch (Gonda, 1960). Einer seiner Namen ist Hara, was der Bandit, Räuber, Zerstörer bedeutet. Später erlangte er den beschwichtigenden Namen Śiva (Glücksbringer, Freundlicher), und heute ist er fast ausschließlich unter diesem Titel bekannt. Wie Du siehst, ist viel vom tantrischen Śiva bereits im Rudra der Veden vorhanden. Als ein Experte für Gifte, Drogen und Krankheiten wurde Rudra der Patron der Heiler. Er ist ein Gott der Wildnis, ein Esser von rohem Fleisch, ein Bluttrinker und Herr aller schrecklichen Geister. ṚV 10, 136, 7 liefert den ersten Hinweis auf seinen engen Bezug zu Eremiten, Asketen und Ekstatikern, die in der Wildnis leben. In späteren Zeiten erscheint er manchmal als eine Gruppe, die Rudras, die an speziellen Plätzen verehrt wurden. Jeder Ort hat einen Geist, einen Genius Loci, und jeder von ihnen ist ein Rudra. Deshalb gab es einen Rudra des Verbrennungsplatzes, einen Rudra der Kreuzungen, des Windes, eines Flusses und sogar einen Rudra des Misthaufens. Manches davon taucht in den späteren Tantras wieder auf.
Bild 10
Rudra, der Bogenschütze.
Spirituelle Disziplin
Die Veden liefern auch den ersten Vorgeschmack auf das, was sehr viel später, ab dem dritten Jahrhundert unserer Zeit, zu meditativem Yoga und Tantra wurde. Willkommen beim Konzept der Māyā! Hier gibt es viele verschiedene Deutungen. Wir machen jetzt eine kleine Reise durch die Zeiten. Zunächst einmal ist die Māyā Erscheinung, also alles, was nicht absolut dauerhaft ist. Das gilt so ziemlich für die ganze Welt, für alles, was war, ist und sein wird. Denn alles, was existiert, ist Erscheinung, die sich im Laufe der Zeit wandelt, und Zeit ist nicht sonderlich verlässlich. Die Māyā hat die Bedeutung von Illusion erlangt, kann aber auch kreative Fähigkeiten meinen. Die Götter benutzen Māyā für ihre Wundertaten. Dämonen erlangen Māyā durch Entsagungen. Seher gebrauchen Māyā, wenn sie rein genug sind, und lassen die Götter erzittern. Māyā kann magische Macht bedeuten, die Macht zu erschaffen, umzuwandeln und zu zerstören. Das alles ist etwas verwirrend, da das Wort Māyā ein kombinierter Begriff ist, der zwei Bedeutungsströme verbindet. Einer von ihnen steht mit Talent, Wissen, Kunst und der Fähigkeit, etwas zu schaffen und herzustellen, in Verbindung. Der andere bezieht sich auf Täuschung, Glamour, Lügen und Illusionen. Als Kombination der beiden Wortströme wurde Māyā die Kraft der kunstvollen Schöpfung und der Täuschung, der Magie, die von einem großen Bereich von Göttern, Dämonen und Sehern gehandhabt wurde. Sie wurde auch personifiziert als Göttin, die rote Māyā, die Schöpferin der Welten, Verzauberin und Betrügerin. Wie man über Māyā denkt, kommt auf den geistigen Hintergrund an. Buddhas Mutter hieß angeblich Māyā und starb kurz nach der Geburt ihres Sohnes. Ob wir es hier mit Geschichte oder Gleichnis zu tun haben, bleibt offen. In den meisten Richtungen des Buddhismus ist Māyā etwas Unangenehmes, Verblendendes, was uns an die Welt und das leidige Ich-Konzept fesselt. Buddha übernahm diese Ansicht aus den frühen Upaniṣaden. Hier ist die Absolute Realität Brahman: formlos, zeitlos, inaktiv, unveränderlich, reines Bewusstsein, absolute Realität, das wahre, undefinierbare Selbst von allem. Māyā dagegen ist Prakṛti, die Ur-Natur, die Manifestation von Allem, von Materie, Welt, Dasein, und gilt als veränderlich, reine Erscheinung, falsch, verblendend und fesselnd. Wer in solchen Heilslehren Fortschritte machen will, muss alle Erscheinung bzw. Māyā ablehnen und sich ganz im Formlosen auflösen. Auch im Vedānta wurden solche Ideen groß geschrieben: die Welt ist eine Illusion, und das ist schlecht. In manchen tantrischen Systemen wird die Situation ganz anders beurteilt. Zugegeben, Māyā ist eine kunstvolle Erscheinung und alles andere als dauerhaft. Aber sie ist, wie alles, was existiert, wie Du und ich und alles, was noch kommen wird, eine Erscheinung des Göttlichen Bewusstseins. Damit wird, besonders bei den Tantrikern aus Kaschmir, Māyā/ Prakṛti zu einem verehrungswürdigen Prinzip, welches das Universum, als Manifestation des Göttlichen, und als Ort der göttlichen Freude, überhaupt ermöglicht.
Aber zu solchen Einsichten waren die vedischen Seher und ihre upaniṣadischen und frühbuddhistischen Nachfolger noch lange nicht fähig. Für die Seher der Veden war die Welt noch recht einfach. Mit der Frage nach Realität und Illusion hatten sie nicht viel zu tun, und auch das Konzept des formlosen All-Selbst war noch nicht entstanden. Die ursprüngliche Māyā war für sie Kraft, Macht und Magie, die kultiviert werden konnten. Māyā kann gesteigert und gebraucht werden, von Göttern wie von Menschen, in einem Prozess, der oft Tapas einbezieht.
Tapas bedeutete ursprünglich innere Hitze, Glut, Askese und Schmerz. Es kann auch Praktiken meinen, die Hitze und daher magische Kraft