Es ist in jedem Fall wichtig, die Arten der Kata, die uns überliefert wurden, nicht miteinander zu verwechseln. Eine Kata kann im Laufe der Zeit stark modifiziert worden sein. Dennoch wird vom Ursprünglichen noch einiges in ihr enthalten sein. Und ebendies ermöglicht uns zu erkennen, was einst die wahre Natur dieser Kata gewesen ist.
Die klassische Kata als verschlüsselte Kampfform
Das kriegerische Element durchdringt jede Kata, und es ist ihr offensichtlichstes Merkmal. Dies gilt zumindest für Teilabschnitte, oft aber für die Gesamtheit der Bewegungsfolgen. Der erste Zweck einer Kata besteht darin, den Praktizierenden das Kämpfen zu lehren, und dies auf eine sehr pragmatische Weise. Dabei darf jedoch niemals vergessen werden, daß in die Kata der Geist, die Erkenntnisse, die Strategien und das technische Rüstzeug der Epoche, in der sie entstanden ist, eingeflossen sind. Manch einer wird sich fragen, was von diesen Kenntnissen heute noch Gültigkeit besitzt. Schließlich verfügen wir gegenwärtig über ein weit umfassenderes Wissen. Wir können Kampfkünste, die aus der ganzen Welt stammen, miteinander vergleichen. Das Ergebnis ist eine völlig neue Kategorisierung der Kampftechniken. Heutzutage kann ein Champion seine Titel gewinnen, ohne daß er sich zugleich mit Kata abmüht. Das ist häufig der Fall. Wie steht es nun um die tatsächliche Effektivität der Techniken der Kata?
Im Karatedô ist die Erscheinungsform einer Kata nicht die gleiche wie die des Kumite, selbst wenn beide offenkundig über die gleichen Grundlagen und über eine Anzahl gemeinsamer Techniken verfügen. Die Kata repräsentiert eine fiktive Situation, in der sich der Kämpfende in einer schier aussichtslosen Lage befindet. Er muß dabei mit mehreren Gegnern kämpfen, die ihn von allen Seiten angreifen. Dies ist eine Situation, in der es um Leben oder Tod geht. Aufgrund der Wiederholungen und der Automatismen der Kata gelangt der Praktizierende jedoch oft in einen Zustand, in dem eine Art zweite Natur in ihm erwacht, die es ihm gestattet, eine „Energie der Verzweiflung“ zu mobilisieren. Ein aktiver, doch zugleich gelassener Geisteszustand ermöglicht es ihm, diese Energie zu kontrollieren. Aus alledem ergibt sich eine potentielle Wirksamkeit, die jedoch nie tatsächlich überprüft werden kann, da solch eine Situation in der Praxis für gewöhnlich nicht auftritt. Die Kata muß perfekt beherrscht werden, aber diese Perfektion dient zu nichts anderem, als den Geist zu „polieren“, indem der Körper trainiert wird. Man begreift nun, daß die öffentliche Vorstellung einer Kata zu dem einzigen Zweck, einen Titel bei Kata-Meisterschaften zu gewinnen, tatsächlich keinerlei Sinn hat für denjenigen, den Funakoshi Gichin als „Mensch des Weges“ bezeichnete.
Das Kumite zu Ausbildungszwecken, wie das Ippon- oder das Sambon-Kumite, ist der Kata verwandt, vor allem unter dem Aspekt, daß es der Kontrolle über das Selbst ebenso verpflichtet ist wie diese. Hingegen stellen das freie Kumite (Kampf) und – schlimmer noch – das von Schiedsrichtern geregelte Shiai (Wettkampf) unmittelbare Konfrontationen dar, bei denen es um die Bestätigung „hier und jetzt“ geht, daß einer der Kämpfenden besser sei als der andere. Dieses Ziel ist ebenso präzise wie beschränkt, es ist frei von darüber hinausgehenden Ambitionen. Es geht den Kämpfenden ausschließlich darum, nach den gegebenen technischen Regeln zu gewinnen, und dies im Sinne eines Spiels (auch wenn dieses Spiel durch Gewalt geprägt ist). Das ist der Grund, weshalb Kumite und Kata nicht wirklich zwei Seiten ein und derselben Medaille darstellen. Es scheint naheliegend zu sein, sich die Frage zu stellen, ob es denn tatsächlich notwendig sei, sich mit den eintönigen Wiederholungen einer Kata abzuplagen, um schnell die für den Kampf erforderliche Effektivität zu erlangen. Schließlich scheinen die in der Kata enthaltenen Techniken nicht an die Entwicklungen und Abläufe, wie sie in einem modernen sportlichen Wettkampf auftreten, heranzureichen. Doch dies ist in Wirklichkeit ein Trugschluß, der auf einer oberflächlichen Betrachtungsweise der in der Kata zu erkennenden Techniken beruht.
Wie bereits weiter vorn erwähnt, bieten alle fernöstlichen16 Formen der Suche und des Lehrens zwei mögliche Wege: den äußeren Weg (Omote17) und den inneren Weg (Ura18). Analog dazu gibt es in den Koshiki Kata ein „Behältnis“ (die Erscheinung, die sichtbaren Techniken: Omote waza) und den „Inhalt“ (das Verborgene, die unsichtbaren Techniken: Ura waza). Ersteres ist jedoch auf eine Weise konzipiert, daß der Zugang zum „Inhalt“ erschwert wird. Die Gründe hierfür sind folgende:
Die Kata ist eine Sprache, eine Zeichenfolge, mit der Wissen bewahrt und zum Ausdruck gebracht wird. Dieses System der Lehre und der Übertragung ist gewissermaßen durch einen Code verschlüsselt. Um das zu verstehen, muß man begreifen, daß es sich um gefährliches Wissen handelt. Gefährlich schon allein deshalb, weil es im Kampf wie eine Waffe eingesetzt werden kann, und gefährlicher noch, wenn das Element der Beherrschung des Selbst hinzukommt, sofern es mißbräuchlich eingesetzt wird. Somit erfüllte die Codierung des Wissens den Zweck, es von jenen fernzuhalten, die seiner nicht würdig waren. Es ist nun offenkundig, daß ohne den Code-Schlüssel für etwas, was anscheinend jedermann lernen kann, die klassische Kata überholt, unnütz und ineffektiv erscheinen kann. Wozu also Zeit und Energie investieren, um sie zu praktizieren? Derartige Überlegungen führten tatsächlich dazu, daß immer häufiger moderne Kata entwickelt werden, denen man eine höhere Effektivität zutraut, nicht zuletzt, weil sie spektakulärer wirken oder technisch „vollständiger“. Dies bedeutet jedoch nichts anderes, als daß bei diesen modernen Kata mangels inneren Gehalts (Ura) das Äußere (Omote) im Vordergrund steht. Man muß wissen, daß in allen Stilrichtungen des Karate die heute praktizierten Kata nur noch Schatten ihrer Vorläufer darstellen, gespickt mit Fehlern, Deformationen und Lücken. Die Ursache hierfür können Fallen sein, die die Meister als Prüfung eingebaut haben oder auch Übermittlungsfehler bei der Weitergabe durch die Schüler. Und dies gilt für alle Formen, von welchem der Experten unserer Zeit sie auch immer praktiziert werden.
In erster Linie liegt das an der Intensität, mit der die Bunkai19 studiert werden, und diese Intensität war in früheren Zeiten bedeutend höher. Das Bunkai ist ein zum Zweck der Erklärung angefertigtes „Abbild“ der Kata für das Üben mit Partner, eine vollständige „Gebrauchsanweisung“, die den Umfang der ursprünglichen Kata beträchtlich „aufbläht“. Früher, als es noch üblich war, sich während des ganzen Lebens mit zwei oder drei Kata, wenn nicht gar nur mit einer einzigen zu befassen, war das zu zweit geübte Bunkai von großer Reichhaltigkeit. Es gab zahlreiche Varianten, Weiterführungen, verschiedene strategische Bedeutungen, unterschiedliche Gesichtspunkte, je nachdem, welche Art von Konfrontation betrachtet wurde. Das ging so weit, daß die Bunkai nur noch sehr entfernt an die vereinfachten Formen, wie sie in der Kata zu finden sind, erinnerten. Heute kann man sich das nur noch schwer vorstellen. Angetrieben durch die Entwicklung und die Rivalität der einzelnen Schulen, vervielfältigte sich die Zahl der Kata, und verschiedene Kata wurden miteinander kombiniert. Das hatte zur Folge, daß immer weniger Zeit für das Vertiefen der Bewegungselemente in Paaren aufgewendet wurde.
Die Vernachlässigung von etwas derart Fundamentalem ließ zwangsläufig manches in Vergessenheit geraten, und es kam zu Verlusten bei der Übertragung traditioneller Kenntnisse. Die heute vorhandenen Reste der klassischen Kata stellen das Endergebnis einer Verarmung dar, die bereits vor langer Zeit ihren Anfang nahm. Es versteht sich von selbst, daß mit fortschreitenden Verlusten hinsichtlich der äußeren Form der klassischen Kata auch die traditionelle Kata verloren gegangen ist, das heißt, das „hermetische“ Doppel der klassischen Kata. Diese Verluste traten beim Übergang von einer Generation auf die nächste auf, aber auch durch die Auswanderung von Kampfkunstexperten in alle Teile der Welt. Die Auswanderer lösten sich langsam, aber sicher von ihren Quellen, aus denen sie nun keine neue Kraft mehr schöpfen konnten. Verstärkt wurde diese Tendenz durch den Tod der letzten allgemein anerkannten, respektierten und gefürchteten (!) Meister. Allein schon die äußere Form dessen, was von den Koshiki Kata geblieben ist, verrät viel über die Unvollkommenheit der ererbten Formen. Die Bewegungen sind oft auf reine Andeutungen reduziert und lassen realere, vollständigere Bewegungsformen nur noch erahnen. Bunkai