Diese alten Kata stellen ein pädagogisches Konzentrat dar, das einen lehrt, sich selbst zu gestalten und – ein jeder an seinem Platz – nützlich zu sein. Die Koshiki Kata können einen Weg weisen, durch den es möglich wird, aufrechten Ganges durchs Leben zu gehen, niemals resigniert aufzugeben und den Willen zu schmieden, damit er allen falschen Glaubenssätzen widerstehen kann, die in der Gesellschaft verbreitet sind. Sie können uns helfen, einen Beitrag zu leisten für eine Welt jenseits der Beliebigkeit.
Wer durch die Schule der Koshiki Kata gegangen ist, wird danach streben, daß die Gesellschaft, in der er lebt, ein wenig vernünftiger, ein wenig ausgeglichener wird, damit es in ihr eine Zukunft gibt, in welcher die Schätze der menschlichen Existenz, die uns aus der Vergangenheit überliefert wurden, wieder einen Wert besitzen und fortbestehen können.
Jede Kata, die sich von ihren Ursprüngen nicht zu weit entfernt hat, hat das Vermögen, den Praktizierenden „richtiges“ Verhalten zu lehren. Damit stellt sie nicht weniger dar als eine Kraft, die jenen weltweiten Tendenzen entgegenwirkt, die den Menschen in verschiedenartigste Abhängigkeiten drängen und ihn schwächlich und stumpfsinnig werden lassen.
Denkt man über den wirklichen Sinn des Weges der Kampfkünste (Dô) nach, so offenbart sich, daß er tatsächlich einen Weg zu einer äußerst wertvollen inneren Freiheit bedeutet. Und das ist es, was ich nach langen Jahren der Praxis endlich begriffen hatte, und die frischen Farben, die diese Entdeckung in meinen Alltag getragen hat, begleiten mich nun in den Herbst meines Lebens.
Ich wünsche meinen geschätzten Lesern dieser deutschen Ausgabe der „Koshiki Kata“, zu derselben Entdeckung zu gelangen, die ihr Leben bereichern wird. Und ich danke dem Palisander Verlag, daß er ihnen dies ermöglicht hat.
Roland Habersetzer
Saint-Nabor, September 2005
Vorbemerkung
In diesem Buch werden die Koshiki Kata des Karatedô, das heißt, die alten, „klassischen“ Formen dieser Kampfkunst behandelt. Um aus der Lektüre dieses Buches praktischen Nutzen ziehen zu können, ist eine solide Kenntnis der modernen Kata, wie sie heute in den Hauptrichtungen des Karate (Shôtôkan ryû, Wadô ryû, Shitô ryû, Gôjû ryû) praktiziert werden, unbedingt vonnöten. Ich halte es deshalb für wichtig, den Leser darauf hinzuweisen, daß es nur eine Möglichkeit gibt, mit Hilfe dieses Buches auf seinem Weg vorwärtszukommen: Er muß langsam voranstreben und darf nie vergessen, daß eine Kata, sei sie nun modern oder klassisch, immer einem bestimmten historischen, geographischen und gesellschaftlichen Kontext entspringt. Für die Koshiki Kata gilt dies natürlich in besonderem Maße, und das ist der Grund für die ausführlichen historischen und genealogischen Abhandlungen in diesem Buch.
Nichts entspräche weniger dem Geist dieser Schrift, als lediglich eine oberflächliche Kenntnis einiger neuer Techniken vermitteln zu wollen.
Die Inkunabeln des Karatedô
Mehrere Jahrzehnte leidenschaftlicher Praxis im Karatedô liegen heute hinter mir. Ich habe unzählige Dinge erlebt, gesehen und vernommen in der „Welt des Budô“, und ich bin auf meinem Weg nicht wenigen Menschen begegnet, deren Verhalten mir unbegreiflich ist. Von Zeit zu Zeit blicke ich zurück, um zu versuchen zu verstehen, um aus Fehlern zu lernen, und um mich erneut von der Leidenschaft ergreifen zu lassen.
Ich erinnere mich gut an das Ende der 50er Jahre, jene Zeit, in der in Frankreich als erstem europäischen Land Karate als neue Kampfkunst entdeckt wurde. In den wenigen Dôjô jener Zeit begann man, unermüdlich fünf oder sechs grundlegende Kata zu üben, in denen alle Lehren und Botschaften unserer Meister verborgen waren. Schicht um Schicht wurde dieses Wissen freigelegt. Niemand von uns wußte, daß noch weitere Kata existierten. Eine Leidenschaft für das Einfache war entfacht worden.
Zehn Jahre später und noch lange Zeit danach wurden die europäischen und amerikanischen Karatevereinigungen durch japanische Experten aller Stile geleitet. Angetrieben durch die beginnende Konkurrenz, begann eine Epoche, die durch einen wahren Heißhunger auf neue Kata gekennzeichnet war. Um im Rennen zu bleiben, mußte man so schnell und so viel wie nur möglich lernen. Was zählte, war, vor allen anderen eine bis dahin unbekannte Kata erlernt zu haben. Ich erinnere mich, wie ich an den Abenden nach den Lehrgängen fieberhaft und in den kleinsten Einzelheiten die Varianten dieser und jener Kata notierte, je nachdem, welcher Experte oder Meister sie gelehrt hatte. Man mußte damals ohne Videoaufzeichnungen zurechtkommen, und so erlernte ich das Zeichnen. Eine Leidenschaft für die Vielheit war entbrannt.
Schließlich, nach etlichen Jahren, hat dieser Durst nach immer mehr zu einem unglaublichen Wirrwarr geführt. Schnell wird man heute des Lernens überdrüssig, lieber entwickelt man eigene Interpretationen, führt kühne Neuerungen ein, entwirft persönliche, spektakuläre Kata. Das führt so weit, daß Kata zu Musik vorgeführt werden, und ein Publikum, das nicht die leiseste Ahnung von dem hat, was „echt“ ist, bejubelt die Show. Die Zeit der Blender, Menschen ohne Verantwortungsgefühl, war gekommen. Aber noch immer existierte eine Vielzahl Karateka, deren Leidenschaft für ihre Kampfkunst nicht erloschen war. Für das Karate-Business und seine Nutznießer spielten diese Praktiker keine Rolle, sie blieben gewissermaßen im Schatten verborgen. Zugunsten ihrer Liebe zur „echten“ Kata verzichteten diese Karateka auf allen äußeren Schein, wohl wissend, daß das, was am meisten glänzt, am stärksten (ver)blendet. Bescheiden und vorsichtig versuchten sie, zu den Quellen ihrer Kunst vorzudringen. Und so kam es dazu, daß parallel zur Entwicklung der Kampfsportverbände und ihrer „vereinheitlichten Kata“ eine Rückbesinnung auf die überlieferten (Koshiki) Kata erfolgte. Eine Rückkehr zu jener Epoche, in der man traditionell „eine Kata in drei Jahren“1 erlernte. Auf diese Weise ist genügend Zeit, daß die Magie der Kata sich entfalten kann, durch die sich dem Praktizierenden ihre physische und geistige Botschaft offenbart. Nur so vermochte sich die Kata in ein Instrument für seine innere Entwicklung zu verwandeln.
In all den Jahren meiner Karatepraxis habe ich mich niemals von einer Mode beeinflussen lassen, weder in den Grundlagen noch in der Form der Ausübung. In dem Weg, den die Kunst der „leeren Hand“ eröffnet, sah ich stets eine außergewöhnliche Möglichkeit, sich mit Hilfe einer Technik zu bilden. Ich entdeckte hier die Freiheit, die jeder Mensch genießen kann, wenn er nur lernt, seine Energie auf intelligente Weise einzusetzen, ohne daß er dadurch seinem Nächsten Schaden zufügen muß. Und das Wesen des Karatedô, seine Seele, das ist die Kata2. Sie stellt die greifbarste, wenn nicht gar die einzige Form dar, die die Ergründung des eigenen Inneren ermöglicht; sie ist ein Werkzeug zur Selbstgestaltung. Indem der Praktizierende langsam und beharrlich an sich arbeitet und dabei seine Neigung zu gewalttätigem Handeln beherrschen lernt, wird er mit ihrer Hilfe den Zugang zu seinem eigentlichen Selbst erlangen.
Ich habe bereits in anderen Büchern3 meine Auffassung über die Kata und den ihnen innewohnenden Reichtum dargelegt, der jenseits der vielleicht ästhetisch anzusehenden, aber gehaltlosen Bewegungsabläufe, wie sie uns heute häufig präsentiert werden, zu finden ist. An dieser Stelle will ich daher diese Überlegungen nur kurz zusammenfassen: Die Kata ist weit mehr als eine Choreographie des Kampfes, weit mehr als eine als Gedächtnisstütze dienende Abfolge von Techniken des Karate. Wird sie im Geiste ihres Schöpfers praktiziert, stellt die Kata eine Brücke dar, die durch die alten Meister der Kunst konstruiert wurde. Eine Brücke, deren