Man darf nicht vergessen, daß die Sorgen des Großteils der Meister der Vergangenheit zuallererst sehr pragmatischer Natur waren. Es wäre nicht in ihrem Sinne, dem Wort den Vorrang vor der Tat zu geben. Der echte Meister war ein ausgeglichener Mensch und keine Gottheit nach dem Bilde seiner Mitmenschen. Aber die manchmal übertriebenen Mythen, die sich um die alten Meister ranken, je mehr ihre wirkliche Persönlichkeit sich im Nebel der Zeit verliert, lassen manchen, der zum ersten Mal ein Dôjô des Karatedô betritt, ins Träumen geraten. Die Geschichte hat die Namen der meisten alten Meister, die bereits zu Lebzeiten zur Legende wurden, bewahrt. Leider verloren sie oft an Einfluß auf die weitere Entwicklung ihrer eigenen Kunst, nachdem ihre Schüler sie quasi in Denkmale verwandelt hatten. Für manche, unter ihnen Funakoshi Gichin, stellte der Schritt auf den Sockel des Ruhms die endgültige Falle dar. Nichts eignet sich mehr, einen Meister zu isolieren, als ihn zur lebenden Statue werden zu lassen. Das ist der Preis der Berühmtheit.
Wer von den noch lebenden Kampfkunstexperten kann heute denn noch darauf hoffen, eines Tages der Gruppe der berühmten Wegbereiter, den „Unsterblichen“ der Kunst der „leeren Hand“, zugerechnet zu werden, weil er etwas hinterlassen hat, was in den Herzen derer weiterlebt, die sich dereinst noch an ihn erinnern werden? Die Technik dieser alten Meister der Kampfkunst sei „göttlich“ gewesen, sagt man. Sie wurden als Tatsujin – Experten, außergewöhnliche Menschen – bezeichnet, manche sogar als Meijin – „vollkommene“ Menschen, die das gewöhnliche Menschsein hinter sich gelassen haben. Ihre offiziellen Nachfolger wie auch ihre Nachfolger „im Schatten“ haben uns die Kampfkunst, wie sie heute besteht, übermittelt. Wenn die klassischen Kata teilweise überlebt haben, so ist dies weit mehr den Nachfolgern „im Schatten“ zu verdanken als den offiziellen. Es gibt heute nur noch sehr wenige dieser „Schattenmeister“ (Kage shihan), und es wird sie wohl nicht mehr lange geben. Die künftige Entwicklung der Koshiki Kata wird davon abhängen, ob es morgen noch anonyme Meister, die das Wesen des Karatedô verkörpern, in den von den ahnungslosen Massen gepriesenen Hierarchien geben wird, die sich mit einer undankbaren Rolle im Schatten begnügen und das Los akzeptieren, anderen den Weg zu bereiten und dennoch schon bald vergessen zu sein. Dies ist eine schwer zu beantwortende Frage.
Auf den folgenden Seiten werde ich versuchen, die verlorene Spur dieser „unendlichen Schätze“ zurückzuverfolgen. Das Ergebnis meiner Spurensuche beruht auf langwierigen Forschungen, deren Ergebnisse wieder und wieder mit den Tatsachen verglichen und auf diese Weise verifiziert wurden. Die Geschichte dieser Schätze der Kampfkunst erzählt von bekannten und weniger bekannten Persönlichkeiten. Sie alle waren außergewöhnliche Menschen, und die Koshiki Kata tragen ihre Prägung.
Fotos 6 bis 8: Japanische Briefmarken, die die Herausbildung des Okinawa te, der Kampfkunst der Ryûkyû-Inseln, würdigen.
Eine klassische Kata gleicht einem Schatz, denn sie entstammt der Vergangenheit, und ihre Entdeckung vermag ein Leben zu verändern. Sie ist „unendlich“, weil ihr tatsächlicher Gehalt unerschöpflich ist. Man kann jede Kata, sei sie klassisch oder modern, auch mit einer zunächst unverständlichen Aneinanderreihung von Buchstaben, Silben, Worten und Satzfragmenten vergleichen. Ihr wahrer Reichtum – die Fähigkeit, ein bestimmtes Gefühl zu wecken – tritt erst dann zutage, wenn sich eines Tages aus den geduldig erlernten Bruchstücken ein Gedicht herauskristallisiert.
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