Koshiki Kata. Roland Habersetzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roland Habersetzer
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Спорт, фитнес
Год издания: 0
isbn: 9783938305225
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ohne weiteres anwendbar sind, Schrittfolgen, die umgekehrt aufzufassen sind, unvollständige Bewegungen, die nie zu Ende geführt werden, Anfänge von Fährten, die nur angedeutet werden, fehlende Übergänge, … Die technische Ausrichtung der „modernen“ Kata ist somit aus bestimmten Umständen hervorgegangen, ihre Zweckbestimmung ist das Ergebnis eines Abkommens vom Weg. Sie ist eine kämpferisch-sportliche Ausdrucksform ohne nennenswerten Bezug zu ihrem Vorläufer. Die Kata dient heute dazu, etwas zur Schau zu stellen. Sie ist ästhetischer geworden. Der Preis dieser trügerischen Entwicklung ist ein Verlust an äußerer wie an innerer Wirksamkeit.

      Verantwortlich für diese Erosion ist das typisch östliche Lehrsystem, das sich als nicht geeignet erwiesen hat, Wissen über eine gewisse Anzahl von Generationen von Meistern hinweg getreu zu übermitteln, und das sich als noch ungeeigneter erwies, als es sich mit den Erfordernissen einer quantitativ schnellen Entwicklung der Kampfkünste konfrontiert sah. Einige der Fallstricke oder Lücken, die man in einer klassischen Kata, wie sie heute praktiziert wird, nachweisen kann, wurden absichtlich in die Bewegungsfolgen eingebaut. Derartige „Fehler“ beruht auf der Absicht, eine Art Labyrinth zu konstruieren, das einerseits dazu diente, Spione, die von anderen Schulen kamen, zu verwirren, damit sie das Wissen nicht stehlen konnten, und das andererseits die Praktizierenden zu großen Anstrengungen anspornen sollte. Hierdurch sollte verhindert werden, daß jedermann den Zugang zum inneren Wesen der Kata finden konnte, ohne es verdient zu haben und ohne bereit zu sein, diese „Wahrheit“ ertragen zu können. Andere Fehler entstanden jedoch unabsichtlich, durch unvollkommene Übertragung des Wissens vom Meister auf den Schüler. Der Grund hierfür ist die Gewohnheit der klassischen Meister der traditionellen Kampfkünste in Japan, zwei Nachfolger zu ernennen: einen offiziellen und einen inoffiziellen. Das zeugt, wie wir sehen werden, von einem gewissen strategischen Sinn, aber es verkomplizierte die Angelegenheit ungemein.

      Gemäß der Tradition bestimmt ein Meister zu seinen Lebzeiten mindestens zwei seiner engsten Schüler, die nach seinem Tode an die Spitze seiner Schule treten. Einer der Nachfolger wird unter den Uchi deshi20 ausgewählt, er ist der „Erbe im Schatten“ (kage deshi). Er wird der weniger bekannte sein, dem jedoch die Gesamtheit der Lehren vermittelt wird, einschließlich der esoterischen21 Aspekte. Der zweite wird unter den Soto deshi22 des Meisters ausgewählt, und er ist der offizielle Erbe, jener, der, nach außen hin bekannter, für die Entwicklung der Schule verantwortlich sein wird. In diesem durchaus originellen Verfahren spiegelt sich die Koexistenz des Schattens (Yin) und des Lichts (Yang) wieder, aber in einem umgekehrten Sinn, als man erwartet hätte: Der Erbe, der im Schatten bleibt, ist in Wahrheit der, welcher das Licht des Wissens empfangen hat. Aber ein solches System führt auch zu einem besonders schnellen Aufsplittern der Stammbäume der Schulen, denn der Prozeß wiederholt sich bei jeder neuen Übertragung des Menkyo kaiden, der höchsten zu erreichenden Berechtigung in einer klassischen Kampfkunst, die Lehren einer Schule weiterzugeben. Dieses dokumentierte Recht wurde offiziell auf jeden „in Erscheinung tretenden“ Nachfolger übertragen und garantierte, daß sein Träger die Gesamtheit der Techniken der Schule beherrschte. Wie wir gezeigt haben, konnte jedoch nur ein innerer Schüler (Uchi deshi) die wahren „Geheimnisse“ der Kata kennen, das heißt, die Schlüssel für den Code, mit dessen Hilfe sich der verborgene Sinn der Kata erschließen ließ. Doch ein Uchi deshi wird sein Wissen stets am Rande des offiziellen und lärmenden Lebens der Schule weitervermitteln. Manche Uchi deshi starben auch, ohne ihre Kenntnisse weitergegeben zu haben, da sie entweder nicht in der Lage oder nicht willens gewesen sind, die Abstammungslinie im Schatten weiterzuführen.

      Diese Methode der Weitergabe von den Geheimnissen einer Kata ist nach und nach zum Erliegen gekommen, oder sie kommt gegenwärtig zum Erliegen. In unserer Zeit verwirklicht sich die Dynamik der weltweiten Entwicklung des Karate nicht mehr auf dem Weg „offizieller“ Nachfolger. Mehr noch: Es gibt niemanden mehr, der die gegenwärtige Entwicklung kontrolliert, niemand genießt mehr Respekt im klassischen Sinne. Hingegen ist die Zahl der „kleinen“ äußeren Schüler allgemein anerkannter Meister, die bereits vor langer Zeit verstorben sind, groß, und sie alle erheben Anspruch auf ein Erbe. Solch ein Anspruch ist im allgemeinen unmöglich zu verifizieren. Oder sie erklären sich einfach selbst zu Meistern, mit dem Recht, Kata zu modifizieren oder neue zu schaffen. Wie soll man sich da noch zurechtfinden? Unser Zeitalter gehört nicht mehr den unumstrittenen Meistern. Es scheint heute so viele von ihnen zu geben! Nicht wenige der hochrangigen Karateka von heute haben bedenkenlos alle Spuren zertreten und, ohne sich dessen bewußt zu sein, die Schüssel verloren für ein Verständnis dessen, was sie zu vermitteln vorgeben.

      Wo aber findet man heute noch das des Karate, den Weg? Er ist nach wie vor im nahezu anonymen Wirken einiger alter Meister zu entdecken, deren Namen nicht einmal in den neuesten bekannten Stammbäumen der Schulen erscheinen, wonach sie im übrigen auch gar nicht trachten. Diese Meister überlassen es anderen, im blendenden Scheinwerferlicht zu stehen und sich der Bewunderung eines unwissenden Publikums hinzugeben. Sie erteilen kaum noch Unterricht, oder sie vermitteln ihr Wissen so wenigen Schülern, daß die Gefahr besteht, daß diese Männer, authentische lebende Schätze einer praktisch verschwundenen Kunst, aussterben und das echte „Leben“ der Koshiki Kata mit ins Grab nehmen. Aber auch andere hervorragende Menschen, seien sie bekannt oder unbekannt in der Welt des Karate, haben endlich die Gefahr begriffen. Sie versuchen, hier und da den fatalen Prozeß aufzuhalten, indem sie anderen die Situation bewußtmachen und sie zum Nachdenken anregen. Aber was kann eine Handvoll kompetenter Menschen guten Willens schon ausrichten, wo die Mehrheit der Karateka oft nur vorübergehend einen Sport ausübt und nicht mehr eine Lebenskunst zu verwirklichen sucht? Kaum jemand weiß noch von dem Dualismus des Inneren und des Äußeren bei dem, was er eigentlich tut, ein Dualismus, der sich noch in der Bezeichnung wiederspiegelt, die Funakoshi Gichin um 1930 wählte, um seine Kunst zu benennen, die er von Okinawa nach Japan gebracht hatte.23

      Zunächst hieß diese Kunst Tôde, wobei to ein chinesisches Begriffszeichen ist, das auf okinawanisch ausgesprochen wird und die Dynastie der Tang bezeichnet. In der weiteren sprachlichen Entwicklung weitete sich die Bedeutung des auf alles, was vom benachbarten chinesischen Festland stammte, aus. De bedeutet eine Technik. Tôde kann demzufolge als „Technik der Tang“ oder „Kontinentaltechnik“ interpretiert werden. Aus dem okinawanischen Begriff Tôde wurde nun der japanische Begriff Kara te. Te heißt auf japanisch „Hand“, aber auch „Kunst“. Kara bedeutet „leer“ im physischen Sinne, aber das Ideogramm für kara kann auch als ku gelesen werden, was „leer“ im metaphysischen Sinne bedeutet, womit die Brücke zu Mushin, der Leere des Geistes geschlagen wird.24 Wenn man kara te als „leere Hand“ interpretieren kann, so kann man es auch als „Kunst des Zustands der Leere des Geistes“ interpretieren. Dies hebt alles auf ein gänzlich neues Niveau, und gleiches gilt auch für die Namen der Kata. Auch diese lassen sich auf verschiedenen Ebenen des Verständnisses unterschiedlich interpretieren.

      Alle Probleme, die sich aus solch einer Komplexität der Zusammenhänge ergeben, haben die Verbände des Sportkarate auf ihre Weise gelöst, indem sie eine Vereinheitlichung jener Kata angeordnet haben, die auf den Meisterschaften oder für die Verleihung von Graden vorgeführt werden. Die Bewegung ist damit zum Selbstzweck geworden, was zählt, sind die Kraft, der Effekt und die Ästhetik. Dem Publikum gefällt das natürlich, und das Publikum ist wegen der Dynamik der Entwicklung der Mitgliederzahlen in den Vereinen zu einem wichtigen Faktor geworden. Der Zweck der Kata ist kein erzieherischer mehr, sondern die Kata soll gefallen, die Mühsal ist durch die Mühelosigkeit abgelöst worden. Selbst die Kata aus Okinawa, die den Ruf haben, die getreuesten Überlieferungen der Koshiki Kata zu sein, sind nicht unbeeinflußt geblieben von dem internationalen Erfolg, der ihren japanischen Abkömmlingen zuteil wurde. Dadurch, daß sie der Kritik ignoranter Beobachter ausgesetzt waren, verloren die „unendlichen Schätze“ von ihrem Glanz.

      Das Wesen der klassischen Kata liegt jenseits der einfachen Techniken. Dennoch: Ohne