Doch der Lauf der Geschichte sollte dies ändern. Völker fanden sich vor die Notwendigkeit gestellt, gegenüber Eindringlingen um ihr Überleben zu kämpfen. Das kulturelle Umfeld wandelte sich, was dazu führte, daß die Interpretation ein und derselben Bewegung, die äußerlich dieselbe geblieben war, sich änderte. Menschliche Irrtümer schlichen sich ein. Auf diese Weise geschah es, daß im Lauf der Zeit die primäre Bestimmung der Tao bzw. Kata die Oberhand gewann, ihre Eignung für den Kampf. Im 20. Jahrhundert begann sich diese Tendenz zu verstärken, eine Entwicklung, die neuen Schwung erlangte, als die Kampfkunst auf das Gebiet des Sports übertragen wurde, mitsamt den zwangsläufig damit verbundenen Anpassungen.
Foto 1
Foto 1 und Grafiken unten: Das Foto zeigt eine im Original farbige Holzstatue im Shanhua-Kloster von Datong und Malereien im Nanshansi-Tempel im Wu-taishan-Gebirge (China).
Die himmlischen Wächter schwenken eine sehr altertümliche Waffe, die Wurfscheibe aus Metall (Messerscheibe), die von den Völkern des alten Indien stammt. Ihre Körperhaltung nimmt bestimmte Bereitschaftshaltungen (Kamae) vorweg, die Bestandteil chinesischer Tao und alter Kata sind. Vergleichbare Statuen findet man bereits in Indien unter den Namen Vajrapani oder Vajradhara, und ihre Bereitschaftshaltungen finden sich in der indischen Kampfkunst Vajramushti wieder. Indem man zornige Gottheiten nachahmte, erhoffte man sich, vergleichbare zerstörerische Energien – auf Menschenmaß reduziert – entfesseln zu können.
Foto 2
Foto 2: Kongo rikishi (Tempelwächter), eine bemalte Holzstatue aus dem Japan des 13. Jahrhunderts (Nationalmuseum von Kyôto). Man findet solche Wächter an den Eingängen buddhistischer Tempel. Sie werden immer paarweise aufgestellt, einer der Wächter repräsentiert dabei das positive Prinzip (Mushaku rikishi), und der andere das negative (Kongo rikishi). Für gewöhnlich werden sie grün bzw. schwarz bemalt. Neben dem offenkundigen Zurschaustellen von Muskelkraft sollen sie auch die kosmische Energie und den Dualismus der Kräfte Yin und Yang symbolisieren. Die Ähnlichkeit der Haltungen der alten indischen, chinesischen und japanischen Wächterstatuen (Grafiken S. 30, Fotos 1 und 2) ist bemerkenswert, vor allem, wenn man berücksichtigt, daß sie Jahrhunderte und zudem tausende Kilometer voneinander entfernt entstanden sind. Beachtenswert ist ebenfalls, daß man die Haltung der Statuen auch so interpretieren kann, daß sie die Stellung des Menschen zwischen Himmel und Erde verdeutlichen – eine Hand ist erhoben, die andere weist zum Boden. Somit verkörpern sie bereits den Dualismus zwischen der „Vorderseite“ (Omote, das Sichtbare) und der Rückseite“ (Ura, das Interpretierte) in ein und derselben Erscheinungsform.
Foto 3
Foto 3: Tôguchi Seikichi Sensei vom (Shôrei kan) beim Vorführen der Kata Seienchin (Gôjû ryû). Die Haltung ist eine menschliche Interpretation eines himmlischen Wächters, wie sie auf den Grafiken auf S. 30 und auf den Fotos 1 und 2 zu sehen sind, und sie kann auf die gleiche Weise gedeutet werden. Die Koshiki Kata des Karatedô enthalten philosophisch-religiöse Elemente sehr alter Kulturen, auch wenn man sich dessen nicht in jedem Fall bewußt ist.
Die sekundäre Bestimmung der Tao bzw. Kata als Mittel der Initiation geriet rasch ins Hintertreffen. Ein Grund hierfür ist darin zu finden, daß eine solche Bestimmung ungeeignet für die Erziehung von Massen ist, die entweder zu ungebildet oder in ihrer Aufmerksamkeit durch verschiedene Einflüsse zu zerstreut sind. Ein weiterer Grund ist, daß die häufige Weitergabe der Formen durch die Meister an ihre Schüler die in den Bewegungsfolgen verborgene Botschaft rasch verblassen ließ. Meister wie Schüler waren stets Menschen, und nicht immer leitete ein höheres Interesse ihre Taten. Heute ist die Unwissenheit über diese „andere“ Seite der Tao bzw. Kata sehr groß, selbst in China oder Japan. Somit haben wir, die praktizierenden Europäer oder Amerikaner, eine gute Entschuldigung, waren wir doch lange Zeit auf das angewiesen, was uns die zeitgenössischen „Meister“ des Ostens als Orientierung für unsere Suche vorgaben. Erst später haben wir erkannt, daß diese Orientierung, von nahem betrachtet, oberflächlich, unbefriedigend oder, schlimmer noch, geradezu armselig war. Unsere Sehnsucht blieb. Tatsächlich nahm ein großer Teil des neuerwachten Interesses für die Kata als Weg der inneren Suche im Westen seinen Ausgang. Die Wegbereiter im Fernen Osten, auf solche Weise an ihre Verantwortlichkeit erinnert, waren nicht immer in der Lage, dieser Form der Wißbegierde zu begegnen. Diese Überlegung ist kein Ausdruck fehlender Bescheidenheit oder mangelnden Urteilsvermögens. Sie ist nichts als eine formale Feststellung: Sogar in Japan und in China gibt es nur wenige wahre Meister, die in der Lage sind, derartige Anforderungen zu erfüllen. Hinzu kommt, daß einige von ihnen dies auch gar nicht wünschen. Die Gründe hierfür sind oft nicht schwer zu verstehen: Man darf bezweifeln, daß ihre Bemühungen in der gegenwärtigen Welt der Kampfkünste ein nennenswertes Echo erfahren würden.
Es ist bekannt, daß der Begriff „Kata“ als „Form“ oder „Gußform“ übersetzt werden kann. Wer die Kata respektiert, kann sich durch sie „formen“ lassen, denn die Kata ist sehr wohl ein auf den Körper übertragbares Schema. Die in ihr verschlüsselten Bewegungsfolgen, durchdrungen von einem bestimmten Geisteszustand, sind für zwei Arten der „Bildung“ vorgesehen: Auf der ersten Ebene dienen sie der äußeren Bildung, der Vorbereitung auf den Kampf; auf der zweiten Ebene dienen sie der inneren Bildung, der Selbstfindung. Die Kata mag einfach oder kompliziert wirken, lang oder kurz sein, immer jedoch regt sie das Streben nach Vervollkommnung an. Nur dank dieses Strebens kann man darauf hoffen, daß sich das Ergebnis einstellt, für das man sich letzten Endes den Zwängen der Kata fügt. Alles muß ergründet werden: die Automatismen, die Phasen, in denen sich die Kraft konzentriert, und die Rhythmen. Man muß nach vollendeten Bewegungsfolgen und nach einem perfekten Zusammenwirken von Körper und Geist streben. Alles muß daran gesetzt werden, den Körper zu einer vollkommenen Waffe werden zu lassen, aber gleichzeitig muß man lernen und akzeptieren, daß diese Waffe nie zum Einsatz kommen wird. Dieser scheinbare Widerspruch – ein weiteres Beispiel für das dualistische Prinzip – bewirkt mit der Zeit (die hierbei ein wesentlicher Faktor ist) eine Evolution des Geistes. Durch unermüdliches Wiederholen der Kata den „Geist zu schmieden“, ist ein Ausdruck, der auf der ersten Ebene eine kriegerische Bedeutung innehat: lernen, mit starkem Geist zu kämpfen. Auf einer zweiten Ebene, die die erste ablösen sollte, geht es um die Suche nach jenem inneren Zustand, der oft als „leerer Geist“ charakterisiert wird und der die Quelle der wirklichen Effizienz darstellt, nach der alle Künste des Fernen Ostens streben. Wird eine Kata auf höherem Niveau ausgeführt, so muß dies ohne Angriffslust oder Verteidigungsbereitschaft erfolgen, ohne einen bestimmten Seelenzustand, ohne eine bestimmte Absicht, ohne Selbstgefälligkeit, ohne Furcht, einzig und allein mit Kraft und Bestimmtheit, die auf kein Ziel gerichtet sind.
„Leerer Geist“ (Mushin) bedeutet nicht die Abwesenheit des Geistes, sondern einen bestimmungslosen und dennoch präsenten Geist. Dieser Zustand ist gekennzeichnet durch inneres Gleichgewicht; Energieflüsse werden freigesetzt und mit vollendeter Gelassenheit gesteuert. Hinter diesem