X-World. Jörg Arndt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jörg Arndt
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Религия: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783865068736
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ist so schön, dich zu sehen!“, sagte er.

      Sie schmiegte sich an ihn, und einen Atemzug lang versuchte er, alles andere zu vergessen und allein diesen Moment wahrzunehmen. Er wollte sich für alle Zeiten an ihn erinnern können. Schließlich sah er sie ernst an.

      „Hör mal, was ich dir jetzt sage, wirst du vielleicht nicht verstehen, aber du musst mir vertrauen. Sonst wird es heute das letzte Mal sein, dass wir uns sehen!“

      „Was, warum?“ Sie sah ihn bestürzt an. Ihre Augen schimmerten feucht. „Was redest du da? Du machst mir Angst!“

      Yannick zog sie wieder in seinen Arm. „Du ahnst ja nicht, was da draußen vor sich geht …“, begann er, aber sie stieß ihn zur Seite.

      „Nun fängst du schon wieder damit an! Ich mag es nicht, wenn du von dieser anderen Welt redest. Ich kann damit nichts anfangen, das weißt du doch!“

      Yannick seufzte. Eigentlich hatte er mittlerweile gelernt, dieses Thema zu vermeiden. So gut sie ihn auch sonst verstand – jedes Mal, wenn er mit ihr über die Welt sprechen wollte, aus der er kam, hatte sie das Gespräch abgebrochen. Der Gedanke, dass es noch etwas anderes als ihr kleines Paradies geben könnte, erschien ihr abwegig, ja, geradezu bedrohlich. Es waren Hirngespinste in ihren Augen – und in gewisser Weise hatte sie ja auch recht damit. Für sie gab es nur diese virtuelle Welt.

      Sie ist ein Bot, machte Yannick sich zum hundertsten Mal klar. Aber wie immer scheiterte diese Einsicht seines Verstandes an den Signalen aus seinem Herzen.

      „Komm schon“, lockte sie ihn, „ich muss dir etwas zeigen. Da hinten gibt es eine Ecke im Garten, die ich gerade erst neu entdeckt habe. Da sind einzigartige Blumen und wunderbare Schmetterlinge – komisch, dass ich die nicht schon früher gesehen habe …“

      Yannick verzichtete weise darauf, ihr zu erklären, dass dies das Ergebnis der letzten Programmierungen Rons war. Er entwickelte den Garten ständig weiter. Normalerweise ließ Yannick sich von ihrer kindlichen Entdeckerfreude nur zu gerne anstecken, zumal der Test der neuen Regionen in sein Aufgabengebiet als Programmentwicklungshelfer fiel – aber jetzt war dafür definitiv keine Zeit.

      „Nein, heute nicht“, sagte er und zog sie in die entgegengesetzte Richtung. „Wir müssen etwas erledigen.“

      „Wohin willst du?“, fragte sie verwirrt.

      „Zu dem Baum in der Mitte des Gartens“, sagte er grimmig.

      „Aber – du hast doch immer gesagt, dass der verboten ist? Dass wir sterben müssen, wenn wir ihn berühren?“

      „Ich weiß. Ich kann es dir jetzt nicht erklären, aber glaube mir, er ist deine einzige Chance zu leben.“

      „Es ist unsere einzige Chance“, fügte er nach einer Pause hinzu.

      Betty sah ihn ängstlich an und schwieg. Widerspruchslos lief sie hinter ihm her. Kurz darauf hatten sie ihr Ziel erreicht.

      Der Baum in der Mitte des Gartens wirkte überraschend unscheinbar. Eher ein Bäumchen als ein Baum. Seine wenigen Früchte erinnerten an die Schaltflächen der Menüs, die Ron zu programmieren pflegte. Eine große Schlange ringelte sich um den Stamm und verlieh dem Ganzen eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Standessymbol der Ärzte.

      Wie passend, dachte Yannick, hier finden wir die Medizin, die Betty das Leben retten kann.

      Die Schlange sah ihnen mit unbewegten Augen entgegen. Dann löste sich ihre Schwanzspitze vom Baum und deutete auf eine bestimmte Frucht.

      „Los, Betty“, sagte Yannick, „diese ist es, die musst du essen!“

      „Aber ich traue mich nicht! Es ist doch verboten!“ „Tu es, bitte! Es muss sein!“

      Betty sah ihn nachdenklich an. „Aber nur, wenn du auch davon isst“, forderte sie.

      Unsicher schielte Yannick zu der Schlange hinüber. Sie nickte unmerklich.

      „Na gut“, sagte er schließlich und schob seine Freundin sanft in die Richtung des Baumes.

      Langsam ging Betty hinüber und streckte ihre Hand aus, wobei sie sichtlich bemüht war, die große Schlange nicht zu berühren, die ihr aufmerksam zusah. Noch einmal hielt das Mädchen inne und drehte sich mit einem fragenden Blick zu Yannick um, der ihr energisch zunickte. Endlich gab sie sich einen Ruck und pflückte die Frucht. Sie sprang zwei Schritte zurück, weg von der Schlange, und schnupperte misstrauisch an ihrer Beute.

      „Riecht gut!“, stellte sie fest und biss herzhaft hinein. Die Frucht hatte helles, festes Fruchtfleisch, fast wie ein Apfel, doch es fehlten die Kerne darin. Sie reichte ihrem Freund den Rest. „Jetzt bist du dran“, sagte sie ernst. Ohne zu zögern, biss er hinein. Dann sahen sich Betty und Yannick an und warteten darauf, dass irgendetwas Außergewöhnliches passierte.

      Den Triumphschrei von Lutz konnten sie nicht hören; er hatte sein Mikrofon wohlweislich nicht angeschlossen. Sein Schlangen-Avatar verständigte sich ausschließlich per Zeichensprache. Der Jubel war berechtigt, denn nun hatte er vollen Zugriff auf das System. Ohne große Umschweife begann er mit dem Download, wozu ihm das Gerät diente, das Yannick in die Rückseite des Servers gesteckt hatte – es stellte eine Datenverbindung über das Mobilfunknetz her.

      Es dauerte eine gewisse Zeit, bis Yannick und Betty die atmosphärische Veränderung in ihrer Umgebung wahrnahmen, aber sie verstärkte sich immer mehr und war schließlich so deutlich zu spüren wie ein kalter Zugwind. Unvermittelt brach Betty in Tränen aus und stürzte davon. Ratlos sah Yannick ihr hinterher. So hatte er sie noch nie erlebt. Er blieb eine Weile unschlüssig stehen, dann ging er ihr nach. Als er sie fand, war sie damit beschäftigt, Gräser und Blätter zu flechten und damit ihre Blöße zu bedecken.

      „Was machst du da?“, fragte er betroffen. „Dir hat es doch bisher nichts ausgemacht, nackt zu sein?“

      Sie sah ihn verlegen an. „Ich weiß auch nicht“, meinte sie schließlich. „Plötzlich fühle ich mich so – beobachtet.“

      Und dann spürte Yannick es auch. Es fühlte sich an, als stünde er splitterfasernackt in einem beleuchteten Schaufenster mitten in der Innenstadt. Unwillkürlich hielt er sich die Hände vor seinen Intimbereich.

      Betty reichte ihm einen geflochtenen Lendenschurz. „Hier, nimm das“, sagte sie. Er erkannte diese Handarbeit wieder: Sie hatte ursprünglich eine Decke werden sollen, mit der Betty vor einigen Tagen begonnen hatte.

      Ungeschickt schlang er sich das improvisierte Kleidungsstück um die Hüfte, aber das Gefühl der Beobachtung wollte nicht weichen. Panisch sah er sich um.

      „Wir sollten uns verstecken“, sagte er.

      ****

      Mittlerweile hatte Ron seine Telefongespräche beendet, die Blumen gegossen, den Kühlschrank geputzt und alle Papiere auf dem Schreibtisch sortiert. Er blickte auf die Uhr. Die Stunde, die er Yannick und Betty zugestanden hatte, war längst überschritten, aber es fiel ihm schwer, das Mädchen zu eliminieren, auch wenn sie nur ein Programm war. Es steckte einfach zu viel Menschliches in ihr.

      Komm schon, du musst es tun, es ist das Beste für Yannick, und du weißt es, rief er sich zur Ordnung – mit nur mäßigem Erfolg allerdings. Lustlos schlurfte er zu seinem Terminal. Auf seinen Befehl hin glommen die abgeschalteten Monitore auf. Automatisch überflog er die Anzeigen – da durchfuhr es ihn plötzlich, als hätte ihm jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über den Rücken gegossen.

      Irgendetwas musste passiert sein. Die Firewall war ausgeschaltet. Wie konnte das sein?

      Ihm fiel nur eine Möglichkeit ein, wie Yannick sie deaktivieren konnte – mit Hilfe der spielinternen Systemsteuerung, dem verbotenen Baum, den er all die Wochen lang nicht angerührt hatte.

      Ron schüttelte ungläubig den Kopf. Das ergab keinen Sinn.

      Vielleicht ist es ja eine Falschmeldung, dachte er, ohne selbst allzu sehr daran zu glauben. Er rief die Logdateien auf, um zu überprüfen, was in der letzten Stunde geschehen