Ron hörte notgedrungen zu und verzog dann verächtlich das Gesicht. Er erinnerte sich, die Ankündigung des Wettbewerbs gelesen zu haben, und war schon damals über die Dreistigkeit der Veranstaltung empört gewesen. „eGames Berlin“ – was für ein hochtrabender Titel für eine bessere LAN-Party im Hinterzimmer einer Berliner Hackerkneipe! Aber immerhin schien der Betreiber über einen gesunden Geschäftssinn zu verfügen. Schließlich hatten die Medien darüber berichtet und ihm kostenlose Werbung verschafft, worauf er es wohl auch abgesehen hatte. Und dieser junge Mann hier war nun der Sieger. Offensichtlich verstand er also etwas von Computern und von Spielen.
Ron überlegte, ob ihm der Zufall hier vielleicht den neuen Assistenten über den Weg schickte, zu dem ihm Gerhardt Fleischmann so eindringlich geraten hatte. Eigentlich arbeitete er am liebsten allein, aber für die Tests brauchte er dringend Unterstützung. Er konnte beim besten Willen nicht zugleich in der virtuellen Welt eingeloggt sein und am Rechner die laufenden Prozesse überwachen. Er hatte aber auch weder Zeit noch Lust, sich auf eine langwierige Suche nach einem geeigneten Mitarbeiter zu begeben. Also warum es nicht mit dem hier versuchen? Das Risiko wäre nicht größer als bei jedem anderen.
Er wartete geduldig, bis der junge Mann sein lautstarkes Telefonat beendet hatte, und ging dann hinüber zu dessen Tisch.
„Guten Abend! Darf ich den Berliner Meister zu einem Bier einladen?“
Der Angesprochene brachte es fertig, zugleich geschmeichelt und verwirrt auszusehen.
„Ja, danke, gerne … äh … Woher kennst du mich?“
„Na, es stand ja groß in der Zeitung“, sagte Ron und grinste in sich hinein. Sollte der junge Mann sich wirklich nicht im Klaren darüber sein, wie viele Zuhörer er mit seinem Telefonat unterhalten hatte?
„Mir kam da eine Idee, als ich dich gesehen habe“, fuhr er fort. „Wir haben nämlich etwas gemeinsam …“
„Und das wäre?“, fragte der junge Mann argwöhnisch.
„Eine Leidenschaft für Computerspiele“, antwortete Ron, setzte sich und legte seine Visitenkarte auf den Tisch wie ein Skatspieler, der einen Trumpf ausspielt. „Und wie es der Zufall so will, bin ich gerade auf der Suche nach einem fähigen Mitarbeiter.“
„Ich hab’ schon einen Job, Mann“, antwortete Yannick abweisend. Anscheinend war ihm die Sache nicht geheuer. Trotzdem griff er nach der Visitenkarte und musterte sie nachdenklich. Eine Weile lang sagte er gar nichts, dann blickte er Ron unverwandt mitten ins Gesicht.
„Hast du ‚Wargames‘ geschrieben?“, fragte er beeindruckt.
Ron nickte.
„Das war das genialste Spiel, das ich je gespielt habe“, sagte der Langhaarige. „Aber ich kann verstehen, dass manche Leute mächtig sauer auf dich sind. Viele haben eine Menge Kohle in das Game investiert, und das war alles weg nach dem Crash …“
„Warum können wir die Vergangenheit nicht endlich mal ruhen lassen?“, gab Ron heftig zurück. Er erschrak über sich selbst, doch er konnte es einfach nicht ertragen, ständig an die gleiche Geschichte erinnert zu werden.
„Ja, Mann, schon okay“, antwortete Yannick unbeeindruckt. „Ich sag doch, das Spiel war genial! Und nun, is’ was Neues am Start?“
„Ja. Aber die Sache ist noch geheim. Wirklich schade, dass du kein Interesse hast!“ Ron stand auf und schickte sich an, zu seinem Tisch zurückzugehen.
„Moment!“, sagte der junge Mann hastig. „Ich hab zwar ’nen Job, aber das ist nur für ein paar Stunden die Woche an der Tankstelle. Für Veränderungen bin ich durchaus offen. Was muss ich tun? Und was bekomme ich dafür?“
Ron lächelte. Er setzte sich wieder und fuhr im Verschwörerton fort: „Du wirst Entwicklungsassistent und Testspieler. Und über deine Bezahlung reden wir, wenn ich weiß, was du draufhast. Für den Anfang bekommst du von mir das Gleiche, was sie dir an der Tankstelle bezahlen. Einverstanden?“
„Klar, Mann!“ Yannicks Augen leuchteten.
„Kannst du gleich anfangen?“
„Von mir aus heute Abend. Ich muss bis neunzehn Uhr arbeiten.“
„Super, dann erwarte ich dich um halb acht.“
Als Ron nach Hause kam, stand ein Paketbote vor der Haustür und studierte andächtig die Aufschriften an den Klingelschildern.
„Wollen Sie zufällig zu mir?“, fragte Ron.
„Dit kommt druff an, wie se heißen!“
„Mein Name ist Ron Schäfer, und ich wohne hier.“
„Ja, dann ist dit für Sie.“
Er hielt ihm das Unterschriftenpad entgegen und händigte ihm ein großes Paket aus. Ron balancierte es durchs Treppenhaus nach oben, schloss seine Wohnungstür auf und nahm es mit hinein.
Kurz darauf hielt er den neuen „Cyberstar 3“ in seinen Händen. Optisch unterschied dieser sich kaum von der vorherigen Version, außer dass der Helm nun mit hauchfeinen Silberstreifen verziert war, die ihn weniger klobig erscheinen ließen.
Ron angelte nach der beiliegenden DVD und schob sie in das Laufwerk seines Computers. Dann verband er die Steuerbox mit seinem Rechner, legte Gamaschen und Handschuhe an und setzte sich den Helm auf den Kopf.
Sofort hatte er den Eindruck, in einer riesigen dunklen Halle zu stehen. Vor ihm schwebte ein leuchtender Hinweis auf das Demonstrationsprogramm in der Luft. Ron streckte seine Hand nach dem O. K.-Button aus und bemerkte einen leichten Widerstand im Handschuh, als er ihn berührte. Es fühlte sich tatsächlich so an, als würde er einen überdimensionalen Druckknopf betätigen.
Schlagartig wechselte die Umgebung. Ein asiatischer Gemischtwarenladen erschien. Gar nicht schlecht gemacht, befand Ron, sah sich um, bewunderte die farbenprächtigen Auslagen von Obst und Gemüse und griff schließlich nach einer Orange.
Wenn er sich unmittelbar auf seine Hände konzentrierte, konnte er die Kontraktionen des Materials ausmachen, überließ er sich jedoch unbefangen der Bilderwelt, dann fühlte es sich in der Tat so an, als berührte er eine echte Frucht. Etwas dumpf kam es ihm vor, etwa so, als betaste man seine Umwelt durch einen Handschuh. Aber dennoch war es eine Sensation. Prüfend wog er die Orange in der Hand. Sogar Gewicht konnten die Cyberhandschuhe imitieren!
Er schlenderte durch den virtuellen Laden, tauchte die Hände in ein Wasserfass, ließ Bürsten und Pfannen durch seine Finger gleiten und staunte über die Intensität der Illusionen. Schließlich beendete er das Demonstrationsprogramm und legte die Ausrüstung ab. Ron war beeindruckt.
Mithilfe seines Dateimanagers durchforstete er die DVD nach technischen Informationen, und fand schließlich einen Ordner „Manuals“, der PDF-Dateien enthielt – in Koreanisch und Englisch. Er öffnete „CS3_hapticmodul_technical_informations.pdf“ und überflog den Text.
Es war, wie er vermutet hatte. Das Cyberset war in der Lage, optische Informationen in haptische umzusetzen. So wie bei dem Druckknopf, den er zu Beginn der Demo betätigt hatte. Wenn er mit seiner virtuellen Hand einen Gegenstand erreichte, zog sich der Handschuh an den entsprechenden Stellen zusammen und simulierte auf diese Weise eine Berührung. Allerdings war das ein ziemlich plumpes Verfahren. Um die Möglichkeiten des neuen Handschuhs wirklich auszureizen, brauchte es entsprechende Datenmodelle, die mit den jeweiligen Objekten verknüpft waren. Das hieß, es blieb dabei, er musste er mit seiner Welt noch einmal von vorn beginnen.
Also, auf ein Neues. Er begann seine Tastatur zu bearbeiten. Bald darauf erschien auf dem Bildschirm eine Einöde. Sand und Steine, so weit das Auge reichte. Ron zog den Cyberhandschuh über, ließ den Sand durch die Finger gleiten, presste ihn in der Faust zusammen. Schließlich nickte er zufrieden.