„Es tut mir wirklich leid, was da vorhin passiert ist“, sagte der Vertriebsleiter. „Leider bin ich nicht mehr Herr in meinem Haus.“ Ron sah ihn verständnislos an.
„Der Betrieb ist vor ein paar Jahren von den Koreanern übernommen worden“, erläuterte er. „Das war wirtschaftlich nicht zu vermeiden, und vieles ist anders geworden seitdem. Ich habe einen sicheren Job, aber die letzten Entscheidungen hinsichtlich der Firma werden nun in Seoul getroffen.“ Seine Stimme klang bitter.
„Und was heißt das jetzt für mich?“, fragte Ron.
„Sie haben es doch gehört: Future Computing hat kein Interesse daran, X-World zu vermarkten.“
„Haben Sie eigentlich eine Ahnung, was das für mich bedeutet?“, entgegnete Ron heftig. „Wir hatten eine Abmachung!“
„Ja, das weiß ich, und bitte glauben Sie mir, wenn ich jemandem mein Wort gebe, dann stehe ich dazu. Aber leider sind mir, was Future Computing angeht, die Hände gebunden.“
„Na prima“, gab Ron bitter zurück, „Ihnen tut alles herzlich leid, und ich kann sehen, wo ich bleibe.“
Gerhardt Fleischmann blieb unbeeindruckt.
„Herr Schäfer, ich halte Sie für ausgesprochen talentiert, und X-World ist das Beste, was ich seit langem gesehen habe.“
„Danke für die Blumen.“ Ron konnte seinen Sarkasmus nicht zügeln. „Ich bin auch sehr zufrieden mit mir, wenn ich das so sagen darf, und wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich das Programm selbst auf den Markt bringen. Leider fehlen mir, offen gestanden, die Mittel dazu.“
„Trotzdem bitte ich Sie weiterzumachen.“
„Haben Sie nicht gehört?“, Ron wurde lauter. Ihm war jetzt alles egal. „Ich bin pleite! Ich kann nicht einmal mehr meine Miete bezahlen!“
„Würden Ihnen fünftausend als Vorschuss erst einmal genügen?“, fragte Gerhardt Fleischmann. Ron glaubte, sich verhört zu haben.
„Was für ein Vorschuss?“, fragte er verwirrt. „Ich denke, das Geschäft mit Future Computing ist gestorben?“
„Ist es auch.“
„Woraufhin bekomme ich dann einen Vorschuss?“
„Auf Ihren Vertrag mit der Prometheus Software AG“, sagte der Geschäftsmann trocken. „Es gibt da nur ein kleines Problem …“
„Und das wäre?“, fragte Ron misstrauisch.
„Die Firma existiert noch nicht.“
Ron starrte ihn entgeistert an.
„Hören Sie“, fuhr Gerhardt Fleischmann fort, „ich möchte Sie nicht mit Details langweilen, die Sie vermutlich ohnehin nicht interessieren. Sie können mir vertrauen. Konzentrieren Sie sich auf das, was Sie gut können, und ich werde das tun, was ich gut kann.“
Er wirkte motiviert und entschlossen. Ron fühlte sich auf unerklärliche Weise sicher in seiner Gegenwart.
„Gut“, sagte er nach kurzem Zögern, „ich habe ohnehin nichts mehr zu verlieren. Also, wie geht es jetzt weiter?“
Der Geschäftsmann griff in die Innentasche seines Sakkos und zog einen dicken Umschlag heraus. „Hier ist erst einmal Ihre Anzahlung“, sagte er. „Den Papierkram regeln wir, wenn ich mit der Firmengründung so weit bin. Bis dahin muss sich jeder von uns auf das Wort des anderen verlassen.“
Das ist nicht die schlechteste Basis, dachte Ron und streckte seine Hand über den Tisch. Gerhardt Fleischmann ergriff sie ernst und schüttelte sie. „Auf gute Zusammenarbeit“, sagte er.
Die beiden Männer sahen sich an. Der ältere räusperte sich. „Sie haben vermutlich mitbekommen, dass es einen neuen Prototyp gibt?“
„Ja“, sagte Ron, „Sie erwähnten bei der Präsentation den Cyberstar 3. Ich dachte erst, Sie hätten sich versprochen.“
„Nein, nein, unsere Entwicklungsabteilung arbeitet momentan mit Hochdruck. Sie wollen den technologischen Vorsprung gegenüber den Mitbewerbern auf jeden Fall halten. Das Neue am Cyberstar 3 ist das haptische Modul.“
„Das was?“ Ron hob den Kopf. Sein Interesse war augenblicklich geweckt.
„Das haptische Modul. Damit kann man nicht nur sehen und hören, sondern auch tasten.“
„Schon klar. Aber wie …“
„Haben Sie schon einmal von künstlichen Muskeln gehört? Das Zeug ist faszinierend. Ein Polymer, das auf elektrischen Strom reagiert. Ohne Strom ist es schlaff wie ein leerer Luftballon, aber wenn man eine Spannung anlegt, fängt es an zu zucken. Aus diesem Material werden die neuen Cyberhandschuhe gebaut. Unsere Techniker haben einen Chip entwickelt, der es erlaubt, einzelne Punkte gezielt anzusteuern, so dass man einen Tasteindruck simulieren kann. Ihre nächste Aufgabe besteht darin, diese Option in Ihr Spiel zu implementieren. Suchen Sie sich einen Assistenten. Es ist wichtig, dass wir so schnell wie möglich an den Markt gehen.“
Unwillkürlich begann Ron, die Informationen in Algorithmen umzusetzen. Dies war Neuland für ihn. Aber wenn das mit den Tasteindrücken wirklich funktionierte, wäre es genial. Gedankenverloren griff er nach seiner Serviette und skizzierte ein Datenmodell darauf. Wie viele Bits würde die Steuerung des haptischen Moduls wohl benötigen? Hoffentlich gab es brauchbare technische Informationen dafür …
Beinahe hatte er vergessen, wo er sich befand.
Gerhardt Fleischmann lächelte. „Ich dachte mir, dass Sie das reizen würde“, sagte er. „Aber nun müssen Sie sich beeilen. Ihr Zug fährt in zwanzig Minuten.“
4. SCHÖPFUNG, DIE ZWEITE
Von der Rückfahrt bekam Ron ebenso wenig mit wie von der Hinfahrt, die er fast komplett verschlafen hatte. Zwar blieb er diesmal wach, doch dachte er so intensiv über das neue Projekt nach, dass er seine Umwelt praktisch vergaß.
Der Gedanke an eine Spielwelt, die nicht nur Bilder und Geräusche, sondern auch Tasteindrücke vermittelte, faszinierte ihn. Allerdings erforderte sie einen völlig anderen Aufbau. Zusätzlich zu Form und Farbe musste jedes Ding nun auch noch Daten zur Haptik beinhalten. Das bedeutete, dass er mit seiner Welt noch einmal neu beginnen musste – aber das schien ihm die Sache wert zu sein.
Als er endlich zuhause eingetroffen war, fuhr er sofort den Rechner hoch. Die Sandburgen wiesen schon in die richtige Richtung, überlegte er. Sandkörner könnten für das haptische Modell in etwa das sein, was die Pixel im Grafikbereich sind. Diesmal wäre der Ausgangspunkt seiner Schöpfung folglich eine Wüste.
Ein lautes Knurren riss ihn aus seinen Überlegungen. Es kam von seinem Magen, der ihn daran erinnerte, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte.
Ron hasste solche Einbrüche der Realität in seine schöpferischen Prozesse, aber er wusste, dass er besser auf diese Signale hörte, sonst würde er in nächster Zeit keinen klaren Gedanken fassen können. Widerstrebend erhob er sich und ging hinüber in die Küche. Der Kühlschrank enthielt eine Tube Senf, einen Rest Ketchup und eine Packung Milch mit abgelaufenem Verfallsdatum. Seine Vorräte an Brot und Müsli hatte er am Wochenende mit Jonte vertilgt. Ron fluchte leise vor sich hin. Im Tiefkühlschrank waren noch Backofenpommes und Fischstäbchen, aber darauf hatte er jetzt keine Lust. Er beschloss, zum Imbiss um die Ecke zu gehen. Ein Döner würde seinem Magenknurren sicher abhelfen.
Eine halbe Stunde später saß er an einem kleinen Esstisch und starrte geistesabwesend auf seinen leer gegessenen Teller mit der schmuddeligen rot-weiß gewürfelten Tischdecke darunter. Ihre Struktur erinnerte ihn an eine Datenmatrix. Angenommen, der eingetrocknete Senffleck dort enthielte die haptischen Informationen, während der Teller – nein, das brachte nichts. Er rief sich zur Ordnung. Solange er kein Datenblatt hatte, waren seine Spekulationen reine Zeitverschwendung. Er sollte