Das Trommeln in seinen Ohren übertönte ihre Worte. Corina … Was verlangst du von mir? »Glaube mir, ich bin in meinen Privilegien wirklich eingeschränkt.«
»Dann finde einen Weg. Sprich mit Nathaniel. Beauftrage einen Privatdetektiv, einen Meisterdieb, der ins Verteidigungsministerium einbrechen kann, egal, was. Finde einfach heraus, was passiert ist. Seitdem er gestorben ist, ist nichts mehr, wie es vorher war. Ich habe alles verloren. Meine Familie. Dich.« Sie biss sich auf die Unterlippe und schwieg.
Am liebsten wäre Stephen herumgelaufen, aber sein Knöchel wehrte sich. Er zog einen Stuhl hervor und setzte sich abrupt hin. Seine Gedanken wirbelten wild durcheinander, und sein Herz wütete. Sag’s ihr. Sag’s ihr einfach. Aber das konnte er nicht. Seine Beichte lag so tief, das nicht einmal das Erdbeben ihrer Bitte sie an die Oberfläche zerren konnte.
Nach einem Moment sah er zu ihr auf. »Und was ist, wenn ich nicht herausfinden kann, was mit ihm passiert ist? Wirst du die Papiere dann einfach nicht unterschreiben? Du willst doch bestimmt auch mit deinem Leben weitermachen, wieder heiraten.«
Ihr Lachen spießte seine Seele auf und provozierte ein höhnisches Kichern seiner inneren Dämonen. Du Narr. Du bist es nicht wert. »Mein Leben endete an dem Tag, als Carlos starb. Meine Eltern trauern immer noch. Sie konnten keinen Schlussstrich ziehen. Unser Haus, das früher so voller Lachen war, ist ganz stickig vor Sorge. Mein Vater hält es keine fünf Minuten mehr darin aus. Meine Mutter dagegen kann das Haus nicht verlassen. Sie weinen um Carlos, als hätten wir gerade erst frische Erde auf sein Grab geschaufelt. In den letzten fünfeinhalb Jahren habe ich mein Herz dazu gezwungen, zwischen den beiden einen Spagat zu machen. Ich habe versucht, eine Brücke zu sein, eine Art Glück zurückzubringen. Ich habe versucht, die Familie wiederherzustellen, die wir einmal waren. Aber wir heilen einfach nicht, Stephen. Sie wollen beide wissen, was mit ihrem wunderschönen Sohn passiert ist, ihrem Stern, dem Erben des Namens Del Rey und der Dynastie, die zu diesem Namen gehört.«
Corina beugte sich zu ihm vor. Indem sie die Hände auf die Armlehnen rechts und links von ihm stemmte, sperrte sie ihn ein. »Wenn das heißt, dass ich mit dir verheiratet bleiben muss, weill ich versuche, meinen Eltern zu helfen, dann bezahle ich den Preis eben. Die Frage ist, ob du den Preis bezahlen willst? Ohne Wahrheit keine Unterschrift.«
Was sah sie aufgeplustert und selbstzufrieden aus. »Du machst Witze«, schoss er zurück und zwang sich zu bissiger Entschlossenheit.
»Lache ich denn?«
»Corina, unsere Beziehung hat nichts mit dem Tod deines Bruders zu tun. Wir können doch nicht in der Schwebe bleiben –«
»Aber sicher können wir das. Wir sind doch seit fünfeinhalb Jahren in der Schwebe. Wir wussten es nur einfach nicht.« Sie sah ihn aus zusammengekniffenen Augen, mit zusammengekniffenen Lippen an, und sein Herz bebte. »Seit dem Tag, an dem ich dich nach deiner Rückkehr aus Afghanistan gesehen habe, mit blauen Flecken und sichtbaren und unsichtbaren Verletzungen, schweigend und trotzig und alles, seitdem wusste ich, dass da noch etwas ist. Irgendetwas, von dem du uns nichts gesagt hast. Und ich weiß nicht, was oder warum. Aber du weißt mehr, und ich glaube, du kannst etwas über meinen Bruder herausfinden.«
»Ich habe es dir doch gesagt. Nach der Explosion wurde mir klar, dass ich das Haus Stratton nicht gefährden darf. Ich hätte meine Anrechte auf den Thron aufgeben müssen, wenn unsere Ehe öffentlich bekannt geworden wäre. Ich habe falsch gehandelt, als ich dich heimlich geheiratet habe. Ich habe gegen das Gesetz Brightons verstoßen und das Wohl der Krone riskiert. Nicht mehr als das und nicht weniger.«
»Also warst du während deines ganzen Einsatzes wahnsinnig verliebt in mich, und das ging bis … wann genau nochmal? Ich habe nichts von dir gehört, nachdem Carlos getötet wurde. Ich habe mir unglaubliche Sorgen gemacht und mich gefragt, ob dir etwas zugestoßen ist. Ich habe immer wieder angerufen, bin nach Brighton zurückgeflogen. Ich wollte gerade zur königlichen Behörde, als ich dich am Neujahrstag in meiner Wohnung gefunden habe.«
Er wusste das alles. Warum musste sie das alles noch einmal durchgehen? »Corina, es ist jetzt nicht nötig –«
»Oh doch, es ist nötig. Ich will wissen, ob mich meine Erinnerung nicht irgendwie im Stich lässt.« Sie wanderte in der Küche umher und ging dann ins Wohnzimmer, bevor sie fortfuhr. »Ich bin mit meinem Herzen in den Händen nach Brighton hinübergeflogen, wo ich den Trost und den Zuspruch meines Mannes suchte, nachdem ich gerade meinen Bruder verloren hatte. Ich habe gehofft und gebetet, dass es dir gut geht. Ich wollte einfach bei dir sein und dich auch trösten. Aber wer begrüßte mich? Ein Mann aus Stahl. Und damit meine ich nicht einen von der Superman-Sorte. Kalte, harte Augen wie polierte blaue Steine. Ich gehe auf dich zu, um dich zu küssen, und du schubst mich weg.«
Die Einzelheiten gruben sich in den trockenen, brachen Boden seines Inneren. An jenem Tag hatte er sie wieder in die Arme schließen wollen. Er hatte sie halten wollen, sie lieben, wollte sich wieder lebendig fühlen. Aber alles, was er sehen konnte, waren Blut und Tod.
»Corina …« Stephen erhob sich, die Vergangenheit war ihm gerade entschieden zu gegenwärtig.
»Ich habe dich gefragt, was denn los sei, was in Torcham passiert ist. Du hast etwas von einer Explosion gesagt. Ich berührte die Schnitte in deinem Gesicht, an deinen Händen, deinen Armen, aber du hast dich zurückgezogen und mir ohne Vorwarnung gesagt, dass es mit uns vorbei ist. Dass die ganze Heirat ein Fehler gewesen sei.« Sie packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. Kräftig. »Ich war unsagbar verliebt in dich. Ich habe dir mein Herz geschenkt, meine Seele und meinen Körper. Und du? Überrollst mich und lässt mich am Boden zerstört zurück.«
Am Boden zerstört. Nathaniels Worte. Ihr Bekenntnis ließ ihn zittern. Er wich ihrem Blick aus, straffte seine breiten Rugby-Schultern und löste sich von ihr. »Es tut mir leid.« Er schluckte seine eigene Offenbarung herunter. »Aber so muss es eben sein.«
»Warum?« Sie beugte sich zu ihm, um ihm ins Gesicht sehen zu können, aber er hatte genug.
»Weil …« Seine Stimme dröhnte durch das weitläufige Loft. »… weil ich es gesagt habe. Genug. Wirst du die Nichtigkeitserklärung unterschreiben oder nicht?« Eine Hand auf den Tisch gestützt, rüstete er sich innerlich für ihre Antwort.
»Du kennst meine Bedingung.«
»Ich akzeptiere diese Bedingung aber nicht.«
»Das ist schlecht. Du kannst nicht immer deinen Willen haben, Stephen. Ich hatte zu viel Zeit, um über das alles nachzudenken. Keine Neuigkeiten, keine Unterschrift. Finde heraus, was mit Carlos passiert ist, und du bist ein freier Mann.«
FÜNF
Noch lange, nachdem Stephen gegangen war, hallte ihr Streit in Corinas Wohnung in ihm nach. Als die Wirkung des Adrenalins endlich nachließ, blieb Corina schwach zurück und schaltete alle Lichter aus – außer denen, die die Glasfronten ihrer Küchenschränke in ein indirektes Licht hüllten.
In ihrem Schlafzimmer schob sie die Balkontüren auf und trat in die Nacht hinaus, hinein in den Gesang der Grillen und in die steife Brise, die vom brackigen Fluss herüberwehte. Lang fielen die Lichtstrahlen von den Wohn- und Geschäftshäusern auf der vorgelagerten Insel auf das Wasser. Ein kleines Segelboot, das mit einer weihnachtlich anmutenden Lichterkette geschmückt war, trieb auf den hohen Bogen der Hebebrücke zu.
Stephen. Er war zu ihr gekommen. Aber nicht, um sie als sein eigen heimzuholen, um ihr seine Liebe zu gestehen, sondern um sie einmal mehr abzuweisen. Corina lehnte sich aufs Geländer und ließ den Kopf hängen. Überwältigende Gefühle fuhren ihr durch Mark und Bein und ließen ihr Tränen über die Wangen strömen.
Ihre