5. Der Kennenlerntag
8:06 Uhr. Horst war noch nicht im Büro. Er würde also heute nicht mehr kommen. Um 8:09 Uhr rief Horst vom Flughafen aus an. In 10 Minuten wäre Einchecken und ich könnte jetzt die Krankmeldung an Frau Doggenfuß weiterleiten. Gestern hatte er die Krankmeldung schon vorbereitet, nachdem er mit Schrecken festgestellt hatte, dass ihm drei Urlaubstage fehlten. Der Last-Minute-Flug nach Kenia war allerdings bereits gebucht – ohne Reiserücktrittsversicherung – und der Flieger stand schon mit laufendem Motor auf dem Flughafen. Zum Glück war wenigstens auf seinen Hausarzt Verlass, der hatte die Krankmeldung gleich für vier Wochen ausgestellt. Kompetenter Mann, sollte ich auch mal ausprobieren.
„Wenn dir drei Wochen die Sonne auf die Festplatte brät, brauchst du anschließend einfach noch ein paar Tage, um dich wieder zu akklimatisieren”, hatte Horst zu mir gesagt und dabei seine Vollglatze massiert. „Und außerdem muss ich noch die Terrasse pflastern. Komm´ ich ja sonst auch nicht zu.”
Es war richtig entspannend, so allein in seinem Büro zu sitzen. Heute hatte ich wenigstens genügend Zeit, ungestört meine aufgestauten Privatgespräche abzuarbeiten. Und ich dachte die ganze Zeit nur an das Eine: eine Eigentumswohnung! Der Gedanke daran hatte sich bei mir regelrecht eingebrannt.
Zuerst rief ich Britta an: „Du, Britta, wir sollten uns den ganzen Samstag einmal Zeit nehmen, um uns Eigentumswohnungen anzusehen.”, schlug ich Britta vor.
„Am Samstag?!” – mehr sagte sie nicht, aber ihr Tonfall löste in mir augenblicklich eine Sirene aus. Da kannten wir uns bereits seit sieben Jahren und waren von diesen sieben Jahren fünf Jahre verheiratet und dennoch ließen sich gewisse Eskalationen nicht vermeiden. Zumindest begriff man eines mit der Zeit schneller: dass es mal wieder zu spät war und die einzige Lösung darin bestand, zügig den Rückzug anzutreten.
Doch ich beging einen Kardinalfehler: Ich versuchte mich herauszuwinden. Als wenn das einem Mann in meiner Situation jemals gelungen wäre – und bei Britta schon gar nicht. Ich sagte jetzt in einem wie ich fand sehr beruhigenden Tonfall: „Naja, es muss ja nicht diesen Samstag sein.” Aber es ließ sich nichts mehr retten.
„Sagtest du Samstag?”, wiederholte Britta und in ihrer Stimme schwang ein Giftcocktail aus Empörung, Wut und verletzter Eitelkeit mit. Schweiß stand auf meiner Stirn. Was konnte an einem gewöhnlichen Samstag, dem siebten Juni gewesen sein? Wie in einer Suchmaschine spulten sich vor meinen Augen sämtliche Geburts- und Todestage näherer Angehöriger und ihrer Haustiere ab. Nichts! Am siebten Juni war einfach nichts gewesen. Man hätte diesen Tag glatt vom Kalender streichen können und kein Mensch hätte davon Kenntnis genommen. Ich jedenfalls nicht.
Da kam mir eine Idee: Brittas Führerschein! Am siebten Juni vor sieben Jahren hatte Britta ihren Führerschein gemacht! Jetzt musste ich nur noch die Kurve kriegen. „Glaubst du etwa, ich hätte deinen Führerschein vergessen! Siebter Juni! Sieben Jahre Führerschein!”, säuselte ich.
„Wenn du noch einmal das Wort Führerschein in den Mund nimmst, lasse ich mich auf der Stelle von dir scheiden!” Britta hatte aufgelegt. Stimmt ja! Auch das war mir leider entfallen: Das Wort „Führerschein” sollte ich auch besser meiden. Britta hatte ihren Führerschein erst im dritten Anlauf geschafft. Einer psychologischen Untersuchung war sie nur knapp entgangen.
Jetzt gab es nur noch eine Rettung: Gundula! Brittas Studienfreundin Gundula! Sie war mir einiges schuldig. Mehr noch: Wenn es in der Welt so etwas wie Gerechtigkeit gäbe, wäre Gundula meine Leibeigene. Sie war schuld daran, dass mir Britta nicht mehr gehorchte. Als Britta und ich uns kennenlernten, hatte Britta sich gerade von Tommy getrennt. Sie fraß mir aus der Hand. Sie kochte für mich, manchmal sogar zwei Mal am Tag warm. Und wir schliefen sogar drei Mal am Tag miteinander – manchmal jedenfalls. Aber Gundulas Einfluss war nicht zu übersehen gewesen. Ich muss sogar eingestehen, dass sich unsere Rollen immer mehr vertauscht hatten. Neulich sagte Britta zum Beispiel, sie hätte keine Lust mehr zum Kochen. Und ich wusste ganz genau, da steckte Gundula dahinter. Gundula war auch schuld daran, dass Britta mittlerweile im 15. Semester studierte und noch lange kein Ende in Sicht war. Korrekterweise muss ich dazu sagen, dass Britta drei Semester nicht mitgezählt hatte, weil sie eine Auszeit brauchte, um die Trennung von Tommy, auch Scheißkerl genannt, zu verarbeiten.
Gundula gähnte unerzogen laut in den Hörer. Anscheinend hatte ich sie gerade aus dem Bett geschmissen. Tschuldige, Gundula – es war ja auch erst 10 Uhr. Ich schilderte ihr kurz mein Problem.
„Siebter Juni”, murmelte sie gedankenverloren. „Ich gehe davon aus, dass du die Geburts- und Hochzeitstage schon abgecheckt hast. Wann hat sie sich von dem Scheißkerl getrennt?”
„Am sechsten Juni”, antwortete ich.
„Und wann habt ihr euch kennengelernt?”, forschte Gundula weiter nach. „Am siebten Juni! – Gundula, du bist einfach genial!”
„Tja, Hartmut, wenn du mich nicht hättest!!!”, sagte Gundula und die drei Ausrufungszeichen hingen wie Atompilze in der Luft. So überschwänglich hätte ich Gundula nie loben dürfen. Hoffentlich war das jemals wieder gut zu machen. Während sie noch einmal unappetitlich in den Hörer gähnte, schaltete ich das Telefon auf Rufumleitung um und legte das Gespräch in den Aktenkeller K 40. Das war reine Notwehr, denn wenn Gundula erstmal am Hörer hing, musste man ihr schon die Ohren abschneiden, um sie zum Auflegen zu bewegen.
Den Rest des Vormittags verbrachte ich damit, leichte Steuererklärungen zu bearbeiten und mir den Kopf zu zermartern, wie ich Britta wieder milde stimmen konnte – und mir fiel tatsächlich etwas ein!
Als ich mit knurrendem Magen nach Hause kam, saß Britta mit einem Schälchen Müslikekse aus dem Reformhaus vor dem Fernseher. Ich war mir sicher, diese Kekse neulich bei Zoo-Warnecke in dem Hunde-Candyshop gesehen zu haben.
Britta schrie aus dem Wohnzimmer: „Wehe, du gehst in die frisch gewischte Küche!”
Sie war also immer noch sauer und ich hatte wirklich riesigen Hunger – und ich beging trotzdem nicht die Todsünde, die frisch gewischte Küche zu betreten. Das war wahres Märtyrertum!
Notgedrungen setzte ich mich zu Britta vor den Fernseher. Volle 42 Minuten wurden wir über die Vorzüge einer WC-Ente mit Saugfüßen und dem patentierten Superflex-Hals aufgeklärt, der in der Lage war, mit einem einzigen Sprühstoß den gefährlichen Urinstein zu eliminieren. Nachdem Britta unser neues Familienmitglied bestellt hatte, fragte ich beiläufig: „Wie wäre es, wenn wir unseren diesjährigen Kennenlerntag einmal ganz anders feiern als sonst?”
Britta schaute mich überrascht an: „Wie? Nicht zum Griechen und dann ins Kino?”
Sie hatte also tatsächlich angebissen. „Nein”, sagte ich, „einmal ganz anders.”
„Also erst zum Chinesen?”, fragte Britta irritiert.
„Nein, ganz, ganz anders! Da kommst du nie drauf: Wir spielen den Tag einfach nach, und zwar genau so, wie wir uns vor sieben Jahren kennen gelernt haben!”
Die Reaktion darauf übertraf alle meine Erwartungen: Britta war hellauf begeistert.
„Ich habe übrigens noch die Popeye-Unterhose”, bemerkte ich und fügte hinzu: „Und du, du hast doch noch dieses süße, gelbe Nachthemd mit dem Biene-Maja-Motiv!”
„Moment mal”, unterbrach mich Britta, „an unserem Kennenlerntag haben wir aber noch nicht miteinander geschlafen! Soviel ich weiß, haben wir uns noch nicht mal geküsst. Da lief noch überhaupt nichts! Ich bin ja schließlich kein Flittchen.”
„Zumindest habe ich dich am Arm gestreichelt”, sagte ich bestimmt.
„Na ja, von mir aus kannst du mich ja mal am Arm streicheln”, erlaubte mir Britta großzügig, „aber ansonsten halten wir uns an die Fakten!”
Noch einmal