Der Weg zum Kopf führte über das Zimmer von Frau Doggenfuß. Es gab natürlich auch einen direkten Zugang zum Büro des Kopfes. Aber die Klinke von Zimmer Nr. 333 in die Hand zu nehmen, wäre eine genauso unmögliche Vorstellung gewesen, wie an der Panzersicherung im Keller herumzufummeln.
Ohne Frau Hoppe-Reitemüller eines Blickes zu würdigen, meldete Frau Doggenfuß sie telefonisch im Vorsteherzimmer an. Nicht-Personen wie der Hausmeister, die Putzfrau und Amtsinspektorinnen aus dem mittleren Dienst wurden von Frau Doggenfuß nur dann persönlich angesprochen, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Mit einem Blick über die Halbrandbrille deutete sie an, dass nun der Weg ins Allerheiligste für Frau Hoppe-Reitemüller offen stand. Ihr Herz begann zu rasen.
In seinem Büro wartete der Kopf hinter seinem drei Quadratmeter großen Schreibtisch. Der Schreibtisch war lediglich mit einem kleinen Notizblock und einem Telefon bestückt. Vor dem Schreibtisch saß ihr Chef, Herr Axthammer. Frau Hoppe-Reitemüller wurde es noch mulmiger zumute. Herr Axthammer war nämlich nicht nur ihr Sachgebietsleiter, sondern zudem auch der Personalratsvorsitzende des Finanzamtes. Nervös fuhr sie sich durch ihr kurzes graues Haar und wie ein Film spulten sich vor ihren Augen die Sünden der vergangenen Tage ab: Volle zwei Stunden hatte sie mit Sybille in Berlin telefoniert ohne die „drei” für Privatgespräche vorweg zu wählen. Dann hatte sie die EDV-Prüfhinweise für die eingegebenen Steuererklärungen ausnahmslos vernichtet, weil sie mit ihnen nichts anzufangen wusste. Schweiß schoss ihr wie von Einspritzdüsen in die Achseln ihrer Bluse, als ihr einfiel, dass sie gerade gestern erst wieder im Internet unter www.knackigehintern.de unermüdlich gesurft hatte. Dabei wurde in der letzten Amtsverfügung noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Nutzung des Internets nur zu dienstlichen Zwecken gestattet sei und ein Vergehen disziplinarisch verfolgt würde. Es würde schwer werden, einen dienstlichen Bezug herzustellen. Oder war jemandem aufgefallen, dass sie fünf Locher aus der Materialausgabe herausgeschmuggelt hatte? Vielleicht Betriebsprüfer Glockemüller, so richtig war dem auch nicht zu trauen.
Der Kopf gab ihr ein Zeichen, sich ihm zu nähern. Er erhob sich nie, um seine Besucher zu begrüßen. Seine Körpergröße war nur öffentlichen Geheimnisträgern und seiner Mutter bekannt. Frau Stöhr hatte einmal behauptet, er wäre keine 1,50 m. Sie wüsste das ganz genau, weil er zu ihrem 25-jährigen Dienstjubiläum in ihrem Büro gewesen sei und nicht einmal so groß wie der Aktenbock in ihrem Zimmer gewesen wäre. Aktenbock A 102 C hätte aber garantiert eine normierte Höhe von 1,50 m.
Frau Hoppe-Reitemüllers Nervosität legte sich ein wenig, als ihr der Kopf die Hand reichte. Er hatte tellergroße, warme fleischige Hände, die bei einem Händedruck ein Gefühl der Geborgenheit vermittelten. Seine Stimme war tief und voll und seine kleinen ewig lächelnden Augen hinter dem kantigen Goldrahmen machten es einem so leicht, Vertrauliches aus dem Kollegenkreis so ganz nebenbei auszuplaudern.
Bei so viel Väterlichkeit war es ihm überhaupt nicht zuzutrauen, dass er auch seine Todesurteile fällte. Da war zum Beispiel der junge Steuersekretär, der im Finanzamt die Steuererklärungen seiner „Privatkunden” selbst bearbeitet und ihnen durch großzügige Ermessensentscheidungen zu üppigen Steuererstattungen verholfen hatte. Kaum zu glauben, dass so etwas wirklich vorkam!
Als Frau Hoppe-Reitemüller davon erfuhr, war ihr zuerst Hartmut Schminke in den Sinn gekommen. Schminke wäre der Einzige gewesen, dem sie das zugetraut hätte. Aber als dieser ihr einige Tage später, nachdem das Urteil gefällt worden war, mit seiner Kaffeetasse und diesem unverwechselbar idiotischen „Mahlzeit”-Grinsen entgegengekommen war, hatte sie gewusst, dass er es nicht gewesen sein konnte. Besagter Kollege war nämlich fristlos entlassen und disziplinarisch belangt worden. Wahrscheinlich arbeitete er jetzt als Handlanger Steuerberater Pfannengaul zu, der dafür bekannt war, seine Arbeit an gestrandete Existenzen aus der Gattung der steuerberatenden Berufe zu delegieren, während er sich auf dem Golfplatz vergnügte.
Frau Hoppe-Reitemüller hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit dem, was jetzt kam. Der Kopf hatte bereits eine ganze Weile mit ihr gesprochen, ehe sie überhaupt realisierte, was er eigentlich von ihr wollte: „…und so habe ich mich im Einvernehmen mit dem Personalrat dazu entschieden, Sie als Frauenbeauftragte zu benennen.”
Die Nachricht brauchte eine Weile, um auf Frau Hoppe-Reitemüllers Hirnrinde anzukommen. Das Einzige, was sie begriff, war die Anmerkung von Herrn Axthammer, sie wäre nun aufgrund dieser neuen Aufgabe zu 33 % von ihrer bisherigen Tätigkeit freigestellt. 33 %! Das waren mehr als eineinhalb Tage in der Woche! Dafür hätte sie fast alles gemacht.
„Sie können es sich noch in Ruhe überlegen”, meinte der Kopf abschließend – aber Frau Hoppe-Reitemüller nahm das Amt ohne eine Sekunde zu zögern an.
Von nun an gab es dienstags und donnerstags von 9:00 Uhr bis 12:00 Uhr eine Sprechstunde für weibliche Bedienstete. Dann zog sie sich ins Personalratszimmer zurück und wartete. Ihr fiel es nicht schwer, gut und gerne zwei Stunden und auch länger in dem bequemen Sessel mit Armlehne zu sitzen und auf das Ende der Sprechstunde zu warten. Die Zeit verbrachte sie damit, sich wie eine Raupe durch das Aldi-Süßigkeiten-Angebot regalweise durchzufressen. Mittlerweile war sie im letzten Regaldrittel bei der Prinzenrolle angelangt.
Von Tag zu Tag wurde sie unvorsichtiger. Irgendwann geschah es: Ausgerechnet als ihre Lieblingsillustrierte mit der Titelstory: Was bringen Frauen mit 50 noch im Bett? Offen auf ihrem Schreibtisch lag, kam Frau Stöhr in ihr Büro gefegt. Sie schaffte es nicht einmal mehr, die Illustrierte rechtzeitig verschwinden zu lassen. Frau Stöhr stierte auf die Zeitschrift und schnappte hörbar nach Luft. Noch bevor sie wieder zu Besinnung kam, sagte Frau Hoppe-Reitemüller geistesgegenwärtig: „Angelika, was sagst du denn dazu: Egal, was ich lese, ich habe immer mehr den Eindruck, wir Frauen sind in den Augen der Männer nur ein willenloses Stück Fleisch. Ich wollte im Namen aller weiblichen Amtsangehörigen gerade einen offenen Brief an die Redaktion dieses verkappten Macho-Blattes schreiben. Allein dieser Titel… Das ist doch pervers!”
Frau Stöhrs Zweifel waren augenblicklich verflogen. Sie sah Frau Hoppe-Reitemüller zufrieden an und blökte: „Rita, ich hab gleich gewusst: Die Rita wird den Männern mal richtig Feuer unterm Hintern machen!”
Frau Hoppe-Reitemüller winkte mit aufgesetzter Bescheidenheit ab: „Lass nur, Angelika!”, sagte sie.
„Aber was ich heute in der Kantine gehört habe, ist wirklich ein dicker Hund!”, fuhr Frau Stöhr mit empörter Stimme fort. „Ich habe ganz genau gehört, wie der Schminke heute in der Kantine zu Herrn Goller gesagt hat, Frau Graugans würde jedem Iltis noch Konkurrenz machen. Und wenn er an ihrer Stelle wäre, würde er sich sämtliche Schweißdrüsen wegoperieren lassen. Und ihrenBusen kann sie sich auch gleich mitmachen lassen, wenn sie schon mal am Schnippeln sind. Das ist doch ein starkes Stück, oder? Wenn ich Frauenbeauftragte wäre, würde ich sofort Schritte gegen den Schminke einleiten!”
Erst heute Morgen war Frau Hoppe-Reitemüller am Büro von Frau Graugans vorbeigekommen. Um den penetranten Schweißgeruch aus der Nase zu bekommen, musste sie erst einmal eine Zigarette rauchen und drei Mandarinen pellen. Sie wandte deshalb zögernd ein: „Angelika, findest du nicht auch, dass Frau Graugans immer ein bisschen streng riecht?”
Frau Stöhr war über den Einwand verärgert: „Aber Rita! Das ist schon viel besser geworden. Diese Bemerkung ist jedenfalls unerhört!”
Frau Hoppe-Reitemüller versuchte abzulenken: „Und das mit dem Busen hat er tatsächlich gesagt?”, hakte sie nach.
Frau Stöhr wich plötzlich aus: „Nun ja, jedenfalls sinngemäß. Zumindest ging es um irgendwelche Schönheits-OPs. Ich werde ihn jedenfalls weiter beobachten!”
Pikiert zog sie ab. Am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn sie Schminke sofort abgeführt hätten. Aber noch war nicht aller Tage Abend.
Frau Hoppe-Reitemüller schauderte jetzt noch bei dem Gedanken, dass sie um ein Haar in dem Büro von Frau Graugans gestrandet wäre. Sechs Jahre war der zweite Platz in Graugans Büro leer geblieben, bis die Geschäftsstelle