Welche Art Geschäfte er genau machte, hat er mir nie genau erzählt. Aber ich glaube, er wusste Bescheid. Er flog zweimal im Jahr in die Karibik. Nicht nur Last-Minute-Flüge! „Schweineteuer, diese Inselaffen!”, stöhnte er jedes Mal, wenn er braungebrannt zurückkehrte. Darüber hinaus hatte Ingo alles, was man hat, wenn man es hat. Natürlich auch eine Eigentumswohnung. Was heißt eine Eigentumswohnung! Er hatte drei: eine zum Wohnen und wegen der steuerlichen Abschreibung, die zweite für die Momente, in denen er einfach mal raus und abhängen musste und die dritte für den Familien-Winterurlaub zwischen den Jahren in St. Moritz. „Des Wichtigschde im Leben is: schaffe und genieße!”, sagte er immer und outete sich damit als bekennender Schwabe. Wenn ich ihn dann staunend und mit bewundernden Blicken ansah, war das Balsam für seine von der Steuer geschröpfte Seele.
Während ich Ingo von der aktuellen Mieterhöhung vorjammerte und mich bitter darüber beklagte, dass die Genossenschaft nicht bereit war, den zerbrochenen Klodeckel zu bezahlen, klopfte er mir väterlich auf die Schulter und sagte: „Mensch, Hartmut, rechne doch mal!” Und dann rechneten wir.
Ich weiß ja, so etwas macht man nicht, aber ich zeigte Ingo trotzdem meine Lohnsteuerkarte. Er war sichtlich betroffen. Bilder einer indischen Hungersnot hätten ihn wahrscheinlich nicht stärker gerührt. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn und er stammelte, nachdem er sich wieder ein wenig gefangen hatte: „Was! Das ist alles? Meine Güte, das kannst du doch keinem erzählen, dass man davon leben kann!” Als Finanzbeamter im mittleren Dienst orientierte sich mein Gehalt nun mal am Existenzminimum. Das war eine Tatsache, die Ingo neu zu sein schien. Sicher, ab und zu war mir schon der Gedanke gekommen, mich zum Beispiel als Buchhalter bei einem Steuerberater zu bewerben. Aber mein Chef, der Herr Axthammer, sagte in den Mitarbeiter-Vorgesetzten-Gesprächen mit einem fürsorglichen Augenzwinkern immer zu mir, dass ich da draußen nicht mehr zurecht käme. „Da draußen”, das war die freie Wirtschaft. Wenn Herr Axthammer von „da draußen” sprach, dann spürte ich einen eisigen Luftzug und es war so, als würde mir eine unsichtbare Hand die Kehle langsam zudrücken. So hatte ich mich bemüht, immer schön unauffällig zu bleiben und war bereits seit 16 Jahren zusammen mit meinem Kollegen Horst gefesselt an mein kleines Büro im Finanzamt neben der Besuchertoilette.
In einem Anfall von Mitleid lud mich Ingo spontan zu „seinem” schicken Italiener ein. Das Lokal war so exklusiv, dass auf der Speisekarte weder Pizza noch Makkaroni zu finden waren. So etwas Ordinäres wurde hier nur ausnahmsweise Kindern unter 14 Jahren an uneinsehbaren Tischen serviert.
Die Teller wurden gerade abgeräumt. Ingo saß regungslos da und starrte auf seinen Cognac. Seine Gehirnwindungen glühten wie ein Toaster in der Röststufe 6. Gedankenverloren murmelte er: „Da muss sich doch irgendetwas bei dir machen lassen!”
„Britta arbeitet übrigens neben ihrem Studium im Fitness-Studio. Das bringt im Monat bestimmt 400 Euro netto”, ergänzte ich um Entspannung der Lage bemüht. Seine Miene hellte sich ein wenig auf. „Na, also”, grunzte er schon etwas zufriedener. Dannverdunkelten sich seine Gesichtszüge wieder beunruhigend und meine aufkeimende Hoffnung war wieder zunichte.
Mit einer Wendung des Schicksals zum Guten hatte ich gar nicht mehr gerechnet, da begannen plötzlich seine Augen zu leuchten. Ingo erhob triumphierend sein Glas und sagte euphorisch: „Junge, wir kaufen! Wir müssen einfach kaufen!”
„Was kaufen?”, fragte ich begriffsstutzig zurück.
„Na, eine Eigentumswohnung!”, raunte Ingo mir ungeduldig zu.
„Mit den paar Kröten, die ihr verdient, kann man vielleicht existieren, aber nicht leben. Deine Miete wird dir über kurz oder lang den Garaus machen. Deshalb müssen wir jetzt kaufen. Bei den niedrigen Zinsen müssen wir jetzt einfach kaufen! Und glaub mir, solche Hasen wie deine Britta sind es nicht gewohnt, ewig in der Gosse zu leben. Wenn du sie halten willst, musst du einmal in deinem Leben wirklich aktiv werden.”
Da hatte ich endlich begriffen.
3. Der Zehnjahresplan
„Nur Eigentum macht frei!” Beglückt und überzeugt von dieser Erkenntnis schlief ich an diesem Abend voller Tatendrang ein.
In der Nacht hatte ich kühne Träume: Ich lebte als Landgraf in einem mittelalterlichen Schloss. Bei meinem letzten Ausritt schwängerte ich 15 Mägde und setzte so manches Dorf in Brand. Was durfte man nicht alles tun, wenn man frei war! Ich wachte gerade noch rechtzeitig auf, ehe es dem Pöbel gelang, mein adeliges Haupt aufzuspießen.
Es war Samstagmorgen. Ingo hatte mir die Augen geöffnet, ich hatte wirklich begriffen: Der Weg aus der Gosse führte nur über Eigentum. Teileigentum war das Zauberwort! Und um an Teileigentum zu gelangen brauchte ich einen Plan. Und um diesen Plan zu erstellen, zunächst einmal Ruhe zum Nachdenken. Eigentlich war heute ein ungünstiger Tag, um Pläne zu schmieden. Denn wirklich Zeit und Ruhe zum Nachdenken hatte ich nur in meinem Büro im Finanzamt. Aber bis Montag konnte und wollte ich nicht warten. Keinen Tag mehr würde ich zögern, uns aus der stinkenden Kloake mittelständischen Beamtentums zu befreien!
Also musste ich Britta heute Morgen irgendwie abschieben. Sie kam mir allerdings zuvor. Während sie an ihrem klumpigen Körnermüsli herumpickte, sagte sie, sie müsse unbedingt noch ein paar Dinge in der Stadt erledigen. Und außerdem würde sie heute Mittag im Fitness-Studio noch einen Aerobic-Kurs geben. Als Britta endlich Anstalten machte, sich zu verdünnisieren, maulte ich hinter ihr her: „Kauf bloß keine Schuhe!”
Britta würde Schuhe kaufen, sie kaufte immer Schuhe. Manchmal versäumte sie es jedoch, die Spuren ihrer Streifzüge zu verwischen. Und wenn ich richtig Glück hatte, fand ich in einer Plastiktüte noch den Bon. Zweimal war es mir bereits gelungen, Schuhe ohne Brittas Wissen wieder umzutauschen. Das Unglaublichste daran: Sie hatte es nicht einmal bemerkt.
Wenigstens hatte ich jetzt meine Ruhe. Feierlich legte ich „Die vier Jahreszeiten” von Vivaldi auf und nahm einen neuen Schreibblock zur Hand. Der Titel meines Werkes lautete: „Der Zehnjahresplan des Hartmut Schminke”. Darunter schrieb ich mit Textmarker: „Was ich will, das schaffe ich auch!” Diesen Satz hatte ich einmal in einem von Brittas Positiv-Büchern gelesen. Britta war nach diesen Büchern süchtig, sie lagen bei uns in jeder Ecke herum, nur ihre Fitnessbibeln hatten sie noch nicht verdrängt.
Jetzt ging es aber ans Eingemachte. Die wichtigste Frage lautete: Wie viel Schotter ließ sich für den Kauf einer Wohnung locker machen? Ersparnisse hatten wir natürlich keine – wovon auch? Die Fünf-Euro-Scheine, die ich hin und wieder in Sofaritzen und hinter Teppichleisten versteckte, um sie vor Brittas Streifzügen durch die Boutiquen zu retten, konnte man als Ersparnis kaum bezeichnen. Unser Konto war eigentlich nur dann nicht überzogen, wenn ich neues Geld bekam. Dann zog ich immer ganz schnell einen Auszug, um wenigstens einmal im Monat in der Illusion zu leben, noch nicht in der Gosse gestrandet zu sein. Es konnte also nur darum gehen, der Bank so viel Kohle wie möglich für eine Finanzierung aus den Rippen zu leiern.
Ich begann damit, auf der einen Seite des Blattes unsere Einnahmen aufzuschreiben. Ob sich die Bank von den großzügigen Schmerzensgeldzahlungen meines Arbeitgebers blenden ließ? Lähmende Zweifel stiegen in mir hoch, aber im Geiste hörte ich Britta meckern: „Ich will aber eine Eigentumswohnung!” Und was Britta wollte, bekam sie auch. Unter würdigen Umständen konnte man von diesem Gehalt nicht einmal einen Kaninchenwurf durchbringen, geschweige denn eine deutsche Beamtenfamilie – und dabei standen wir noch am Anfang unserer Familienplanung.
Auf der anderen Seite des Blattes listete ich tapfer unsere Ausgaben auf. Die Aufstellung wollte gar nicht mehr enden. Immer wieder fiel mir etwas ein, was ich bislang noch nicht berücksichtigt hatte: Frisör, ADAC-Mitgliedsbeitrag, Staubsaugerbeutel, Kondome. Hinter „Kondome” vermerkte ich als