»Jawohl, Kernphysik, du Pinsel!« fauchte Henrik, sodass ihm der Speichel von den Lippen flog. »Und zwar in Motherwell, das ist in Irland, damit du’s weißt und in deinem Seniorenstift in der Bastelstunde was zu erzählen hast!«
Der Lover seiner Mutter bedachte ihn mit einem seltsamen Blick, der Henrik nachdenklich gestimmt hätte, wäre er nicht damit beschäftigt gewesen, einen klemmenden Geldhahn zu öffnen.
»Wie viel?« Seine Mutter blieb kalt wie Schweineöhrchen im Kühlhaus.
»Siebenhundert Euro«, antwortete Henrik ebenso knapp. Er schluckte. Jetzt kam der Augenblick der Wahrheit …
»Keine Chance, mein Lieber!« Sarah Wanker drückte die Kippe mit einer heftigen Bewegung im Aschenbecher aus, vielmehr, sie zerquetschte sie regelrecht. »Du musst lernen, mit deinem Geld besser zu haushalten. Das sage ich dir schon seit Jahren. Ich habe auch meine finanziellen Verpflichtungen und darum nichts zu verschenken.«
»Welche Verpflichtungen?«, entließ Henrik aufgebracht. »Soviel ich weiß, lebst du sehr gut von Vaters Rente und in Vaters Haus. Anstatt jede Woche Geld für den Caterer auszugeben, um diese widerlichen Schlangen zu füttern, könntest du deinem Sohn ermöglichen, dass er nicht nächsten Monat unter der Brücke schlafen muss.«
Die Enttäuschung hinderte ihn nicht daran, sich eine Schüssel Kürbiscremesuppe zurechtzumachen und kleine Stückchen vom Baguettebrot einzutauchen, die er nun genüsslich am Gaumen zerdrückte.
»Du kriegst keinen Cent mehr von mir«, ereiferte sich die Mutter weiter. »Gib das Geld vernünftig und nicht fürs Saufen, für Drogen oder …«, ihr Mund ähnelte einem zähnefletschendem Bullterrier, als sie hervorstieß: »… für Stricher aus!«
Henrik hätte um ein Haar die Suppenschüssel fallen lassen, als seine Mutter diese Worte förmlich ausspie.
»Wie kannst du so was zu mir sagen?« Verdammt! Zu allem Unheil hatte er sich jetzt auch noch die Zunge verbrannt. Das tat beim Sprechen weh. Aber egal! Die Schlacht musste er gewinnen! »Tobi ist ein Trottel, ja! Aber kein Stricher. Und was hat das überhaupt mit unserem Problem zu tun?«
»Deinem Problem, mein Lieber, nicht unser Problem!« Sarah Wanker trat bedrohlich nahe an den Sohn heran und tippte mit dem rot lackierten Nagel ihres Zeigefingers gegen seine Brust. »Außerdem habe ich eine Alternative zu der Lösung, unter einer Brücke zu schlafen.«
»Welche?«, flüsterte Henrik und wagte die Suppenschüssel nicht aufs Büfett zu stellen. Er ahnte, dass nun die überraschende Wendung kam. Ob es sich um eine angenehme handelte, stand auf einem anderen Blatt.
»Du ziehst in meine Dachkammer ein.«
Henrik stand vor Staunen der Mund offen. Die Beiläufigkeit, mit der seine Mutter ihm den Vorschlag eröffnete, verblüffte ihn am meisten. »Vor ein paar Jahren konntest du mich nicht schnell genug loswerden und hast mir das Appartement gemietet. Und jetzt – wegen lumpiger 700 Euro – schlägst du vor, dass ich wieder zurückkommen soll?«
Da stimmte etwas nicht und stank ganz gewaltig. Doch was?
»Ich sage nicht, dass du zurückkommen sollst, mein Sohn«, schnappte Sarah Wanker zurück. »Durch dein Verhalten zeigst du aber, dass du nicht in der Lage bist, dein eigenes Leben zu gestalten. Du wurdest wegen Drogenbesitzes festgenommen, du treibst dich in zwielichtigen Etablissements herum, du wirst in Schlägereien verwickelt und, um allem die Krone aufzusetzen, wirst du auch verdächtigt, ein Sittlichkeitsverbrecher zu sein! Was soll ich noch aufzählen?« Den letzten Satz schrie Sarah Wanker fast heraus.
Henrik stand mit hängenden Schultern ratlos da. Ihm fiel kein Argument für seine Ehrenrettung ein, keine freche Pointe, keine verletzende Bemerkung, nicht mal eine billige Lüge. Die Schlacht war verloren. Plötzlich herrschte Stille im Raum.
Konrad Müller, der wie ein graues Gespenst im Hintergrund gelauert hatte, räusperte sich jetzt vernehmlich. Das süffisante Lächeln erschien wieder auf seinem Gesicht, als er sagte: »Übrigens, mein Junge … Motherwell liegt in Schottland, nicht in Irland.«
Henrik ließ die Suppenschüssel auf den Boden fallen, drehte sich um und verließ, so schnell es ihm möglich war, das Haus, nicht ohne die Türe wutschnaubend hinter sich zuzuknallen.
6 | Eine geniale Spielidee
Für den Rest des Tages verkroch sich Henrik voll Frust in seinem Bett. Er wollte nichts mehr hören und sehen. Am Abend rief er Tobi an. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag gegen ein Uhr. Von Tobis Wohnung aus wollten sie Frank einen Besuch abstatten, um ihn über die KoF-Spieler auszufragen, die sich regelmäßig im Molocco trafen, über deren Verbindung zu den Schlägern von neulich und über diesen Tulsadoom.
Tobi wohnte mit seinen Eltern in einem achtzehnstöckigen Hochhaus im sozialen Brennpunkt der Stadt. Die Grünanlage mit dem kleinen Spielplatz vor dem Haus war verkommen und zugemüllt. Im Sandkasten steckten neben Zigarettenkippen und verbeulten Bierdosen auch hin und wieder gebrauchte Heroinspritzen. Hinter einem kläglichen Holundergebüsch lagen ein benutztes Kondom und zerknüllte Papiertaschentücher. Die Hausfassade war mit schlecht ausgeführten oder halb fertigen Graffiti besprüht. Henrik ging achtlos an diesen traurigen Zeugnissen einer desillusionierten und chancenlosen Jugend des dritten Jahrtausends vorbei. Ihn interessierte mehr, ob dieser verdammte Aufzug funktionierte, oder ob das Ding immer noch defekt war, denn Tobis Eltern wohnten im sechzehnten Stock. Als er ins Treppenhaus eintrat, erkannte er gerade noch rechtzeitig die Lache von Erbrochenem unter den Briefkästen und sprang fluchend über den stinkenden See hinweg.
An der verbeulten Aufzugstür mit der eingeschlagenen Scheibe klebte nach wie vor ein Zettel mit der Aufschrift Außer Betrieb. Darunter war dilettantisch mit schwarzem Marker ein erigierter Penis gekritzelt.
Henrik fluchte unterdrückt. Schweren Herzens nahm er den mühsamen Aufstieg durch das verdreckte und übel riechende Treppenhaus in Angriff. Spätestens ab der sechsten Etage machten sich die zwei bis drei Pizzen pro Woche zu viel und die fehlende sportliche Betätigung unangenehm bemerkbar. Nach einem guten Dutzend weiterer deftiger Verwünschungen und fünf oder sechs Verschnaufpausen war Henrik endlich vor Tobis Wohnungstür angekommen. Völlig außer Atem drückte er auf die Klingel neben dem Namensschild Krüger.
Kurz darauf riss Tobi die Tür auf. »Ey, Alter! Da bist du ja endlich! Was ist los? Siehst gar nicht gut aus, Kumpel. Kriegst du’n Herzanfall oder so was?«
Doch ehe Henrik in der Lage war zu antworten, zog Tobi ihn in die Wohnung und redete munter weiter drauflos. »Na, komm schon, wir schieben uns gerade ein paar Burger rein.«
Im Wohnzimmer saßen Tobis Eltern auf der Couch vorm Fernseher und starrten gebannt auf die Wiederholung einer Talkshowsendung. Thema: Ich brauche jeden Tag Sex.
Vier gepiercte Jugendliche im Alter zwischen achtzehn und einundzwanzig Jahren saßen im Studio und übertrafen sich gegenseitig darin, sich auf üble Weise zu beschimpfen und Obszönitäten an den Kopf zu werfen. Eine zwanzigjährige fette Schlampe mit rot gefärbter Irokesenfrisur, weißem, durchsichtigem T-Shirt, unter dem die hüpfenden Fleischmassen ohne Büstenhalter wogten und wabbelten, machte sich über ihren Freund lustig, der neben ihr saß, und zwar darüber, wie wenig Standfestigkeit sein kleiner Ständer während ihrer letzten Liebesnacht bewiesen hatte.
Der bekannte Moderator Hugo Egon Pocher – nach hinten gekämmtes, gegeltes blondes Haar – grinste wie immer dreckig und machte anzügliche Bemerkungen in Richtung Publikum.
Karl Krüger, Tobis Vater, starrte mit der Bierflasche in der Hand auf den Bildschirm. Amüsiert kichernd kratzte er sich im Schritt seiner Trainingshose, während er fasziniert die Vorgänge auf der Mattscheibe beobachtete.
Henrik schickte ein kurzes Hallo in die Richtung der Couch. Der achtundvierzigjährige Hartz-IV-Empfänger grunzte eine Erwiderung, ohne seinen Blick vom Fernseher abzuwenden, nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche und rülpste vernehmlich. Frau Krüger nickte Henrik nur geistesabwesend