Dr. Ressing hob die Augenbrauen.
"Das wäre ein sehr ungünstiges Szenario."
Mir fiel unwillkürlich die Schießerei ein, die sich die Täter mit den Sicherheitskräften geliefert hatten. Bei dem Gedanken daran, dass dabei der Behälter hätte zerstört werden können, konnte einen nur das Grauen erfassen...
4
Am frühen Nachmittag saßen wir im Büro von Special Agent in Charge Jonathan D. McKee. Mr. McKee war der Chef des FBI-Districts New York und damit unser direkter Vorgesetzter.
Außer Milo und mir waren noch ein gutes Dutzend weiterer Agenten anwesend, dazu Spezialisten aus verschiedenen Bereichen. Der FBI hat in seinen Reihen Wissenschaftler aus fast allen Spezialgebieten.
In diesem Fall waren das neben den üblichen Spezialisten der Spurensicherung und der Ballistik vor allem Mediziner und Biologen.
Es ging darum, über erste Fahndungsmaßnahmen zu beraten.
FBI-Spezialisten untersuchten noch immer die MADISON-Labors und das Gelände. Jedes Projektil am Tatort wurde eingesammelt und von der Ballistik untersucht.
Wir hörten uns die Ausführungen von Dr. James Satory an, einem Epidemiologen von der nationalen Gesundheitsbehörde.
Während dessen warf ein Projektor das Abbild eines sogenannten CX-Behälters an die Wand, wie er bei MADISON entwendet worden war. Dr. Satorys Ausführungen nach handelte es sich um einen Behälter mit besonderen Sicherheitsstandards, der zum Transport oder der Lagerung von biologisch sensiblem Material verwendet wurde.
"Der Pest-Erreger nennt sich Yersinia Pestis und kommt ursprünglich bei Nagetieren vor", erläuterte Satory dann. "Die Übertragung von Nagetier zu Mensch erfolgt über Flöhe. Zwischen Menschen ist eine Tröpfcheninfektion möglich - wie bei einem grippalen Infekt. Bei den großen Epidemien im Mittelalter wurden ganze Landstriche entvölkert. Die Krankheit verläuft typischerweise so: Nach einer Inkubationszeit von 3-6 Tagen kommt es zu Schüttelfrost, Fieber und Lymphknotenschwellungen. Bei schwerem Verlauf kann innerhalb weniger Tage der Tod eintreten." Satorys Gesicht war sehr ernst, als er dann fortfuhr: "Ich habe hier einiges Datenmaterial vorliegen, das mir die Entwicklungsabteilung von MADISON GEN-TECH überlassen hat. Der Inhalt des CX-Behälters besteht aus Erregern, die gentechnisch verändert wurden. Das bedeutet, dass anhand von Tierversuchen verschiedene Auswirkungen dieser künstlichen Mutation nachweisbar sind: Erstens die Antibiotika-Resistenz, zweitens eine wesentlich erhöhte und beschleunigte Sterblichkeit bei den erkrankten Organismen und drittens scheint der Erreger jetzt einen biochemischen Mechanismus zu besitzen, der für eine Inkubationszeit von ungewöhnlicher Schwankungsbreite sorgt."
"Was hat das für Auswirkungen?", fragte Mr. McKee.
"Verheerende! Jedenfalls im Fall einer Epidemie. Natürlich kann man Tierversuche nicht eins zu eins auf Menschen übertragen, aber ich denke man kann folgendes sagen: Wir müssen damit rechnen, dass es einerseits Erkrankte geben wird, die innerhalb eines Tages nach der Ansteckung bereits tot sind, während andere die Krankheit möglicherweise bis zu einer Zeit von drei Jahren in sich tragen, ohne Symptome. Die veränderte Version des Pest-Erregers hat die teuflische Fähigkeit, jahrelang unter ungünstigsten Bedingungen zu überleben, um sich dann explosionsartig zu vermehren. Leider wissen wir zu wenig über den Mechanismus, von dem ich sprach, um genauere Voraussagen treffen zu können. Außer vielleicht dieser: Selbst das modernste Gesundheitswesen steht einer derart schwankenden Inkubationszeit fast ohnmächtig gegenüber, weil jede Quarantänemaßnahme ins Leere läuft." Satory deutete auf einen Stapel gehefteter Computerausdrucken. "Die wichtigsten Eigenschaften des Erregers - soweit ich die aus den Unterlagen von MADISON GEN-TECH herauslesen konnte, habe ich hier für jeden von Ihnen zusammengefasst! Eine Millionenmetropole wie New York City ist wie geschaffen für die Ausbreitung einer Pestepidemie... Und wenn man bedenkt, dass es sich um gentechnisch veränderte Yersinia Pestis handelt, dann Gnade uns Gott, falls dieser verschwundene Behälter in die Hände von Terroristen oder Fanatikern fällt... Es gibt kein Gegenmittel, die Ansteckungsgefahr ist immens und möglicherweise überlebt der Erreger sogar ohne Wirt, zum Beispiel im Abwasser. Ein Spielzeug für Wahnsinnige!"
"Es reicht schon ein Ahnungsloser", gab Milo zu bedenken.
"Ich halte diese Gefahr für eher gering", meinte Agent Nat Norton. Er war im Innendienst tätig und Spezialist für Betriebswirtschaft. Seine Hauptaufgabe bestand darin, Geldströme und Firmenverflechtungen aufzudecken. Bei Ermittlungen gegen das organisierte Verbrechen war das ein wesentlicher Teil der Ermittlungsarbeit. "Ich fürchte sogar, dass der Behälter bereits außer Landes sein könnte."
"An allen Flughäfen und Grenzübergängen sind die Kontrollen verschärft worden", gab Mr. McKee zu bedenken.
"Dennoch", meinte Norton. "Wenn man sich fragt, wer an gentechnisch veränderten Yersinia Pestis interessiert sein könnte, dann kommt man doch als erstes auf alle diejenigen, die sich ein Arsenal von biologischen Kampfstoffen anlegen wollen, aber nicht die Möglichkeit haben, es selbst zu entwickeln."
"Mindestens zwei Dutzend Staaten mit ihren Geheimdiensten kämen also als Urheber dieses Einbruchs in Frage", stellte Mr. McKee düster fest.
"Mir fiel auf, dass die Vertreter von MADISON uns gegenüber bisher ausgesprochen zugeknöpft waren", erklärte ich. "Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie wirklich daran interessiert waren, uns die Arbeit leichter zu machen. Vielleicht würde es sich lohnen, diese Firma mal etwas zu durchleuchten."
Ein mattes Lächeln glitt über das Gesicht von Nat Norton. "Nun, ich habe schon mal zusammengetragen, was es auf die Schnelle über MADISON GEN-TECH in unsere Datenspeichern zu finden gibt. Die Aktienmehrheit wird von einem Schweizer Unternehmen mit dem Namen Fürbringer Holding in Zürich gehalten. In dieser Holding sind verschiedene Unternehmen aus dem Gen- und Biotechnikbereich zusammengefasst, außerdem pharmazeutische und chemische Betriebe in aller Welt. Wirtschaftlich gesehen ist Fürbringer allerdings alles andere als ein Riese. Aber in bestimmten Marktsegmenten haben die Unternehmen dieser Holding eine beherrschende Stellung. Uns liegen Informationen vom CIA vor, danach stehen einige Fürbringer-Tochterunternehmen im Verdacht, bei der Entwicklung von Biowaffen in verschiedenen Staaten des mittleren Ostens die Finger im Spiel gehabt zu haben."
"Gibt es einen solchen Verdacht auch gegen MADISON?", fragte ich.
Norton schüttelte den Kopf.
"Ich würde vermuten, dass MADISON GEN-TECH so etwas wie die saubere Entwicklungszentrale ist, in der das Know-how vermehrt wird - während dann andere Fürbringer-Töchter die Drecksarbeit erledigen."
"Aber das ist nur eine Vermutung", stellte Mr. McKee fest. "Etwas Konkretes gibt es weder gegen MADISON noch gegen Fürbringer."