Schwägerin Louise ereiferte sich auch Anfang Januar 1832 noch. Während ihre Familie in aller Bescheidenheit Weihnachten gefeiert hatte, missfielen ihr die Festlichkeiten bei ihrer Schwiegerfamilie. An ihre Eltern: „In Jenny’s Gemüth muß aber auch kein Fünkchen Gefühl wohnen, sonst würde sie sich doch schon aus Mitleid mit ihrem unglücklichen ihr so viel Liebe bewiesen habenden Verlobten, gegen solch eine unpassende Feier gewehrt haben. … Wie lange wird es dauren, u. der erste, beste Nachfolger tritt an H. v. Pannewitz Stelle, wenn die etwaigen Bewerber nicht durch die dem Armen widerfahrene Behandlung etwas kopfscheu gemacht sein sollten.“ 23 Was die Schwägerin nicht ahnte, war, dass der „erste, beste Nachfolger“ bereits in unmittelbarer Nähe war. Ausgehend von ihrer begierigen Anteilnahme an Jennys erster Verlobung lässt die Vorstellung schaudern, wie sie sich über die nächste Liaison geäußert hat.
Von den Hauptpersonen liegt keine Äußerung zu dieser Episode vor, und so bleiben nur Mutmaßungen. Für Jenny von Westphalen war des Leutnants engstirnige Geisteshaltung für die Trennung entscheidend gewesen. Der preußische Soldat hatte Gehorsam und Exerzieren gelernt, selbständiges Denken und kritische Auseinandersetzungen waren ihm fremd. Er sah keinen Sinn darin, Bildung und Wissen über das übliche Maß hinaus zu erlangen. Wider Erwarten zeigte sich die Verlobte nicht nur an Handarbeit, sondern auch an Literatur und sozial-politischen Themen interessiert. Die Gründung des Staates Belgien und vor allem die Julirevolution in Frankreich 1830 waren Diskussionsthemen im häuslichen Kreise gewesen und Jenny wollte auch bei Pannewitz zu den brennenden politischen Fragen nicht brav schweigen, wie es von einer jungen Dame von Stand erwartet wurde. Noch schlimmer: Die Braut votierte nicht für das Niederschlagen revolutionärer Aktionen durch das Militär. Ihr Verlobter hingegen zeigte vermutlich keinerlei Verständnis und Sympathie für die Aufrührer. Für ihn war das Eingreifen der Armee eine Selbstverständlichkeit. Er war bereit, die aufmüpfigen Bürger in Trier niederzuschießen und niederzustechen, ganz nach Friedrich Wilhelms IV. späterem Motto: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten“. Bei näherem Kennenlernen behagte Jenny die Einstellung des Verlobten immer weniger, und ihr Verhalten wurde eine Herausforderung für den elf Jahre älteren Leutnant, der er nicht gewachsen war. Inwieweit es Jenny als chic empfand zu opponieren, mag dahingestellt sein, aber sie fühlte in ihrem Innersten, dass ihrem Leutnant noch etwas fehlte, was sie für unverzichtbar hielt: ein soziales Gewissen, d.h. Empathie mit den Armen und Bedürftigen und Verständnis für die aufgeklärten, mündigen Bürger, die Mitspracherecht in ihrem Staat einforderten und nicht länger Untertanen sein wollten. Das musste keineswegs eine prinzipiell antimonarchische Haltung bedeuten, aber der Soldat Karl von Pannewitz empfand es als zu provozierend, dass das 17-jährige Fräulein eine andere – aus seiner Sicht revolutionäre! – Meinung vertrat. Sie oder er zogen die Konsequenz.
Schwägerin Louise mag durchaus richtig mit ihrer Beobachtung gelegen haben, dass Mutter und Tante in beide Entscheidungen involviert waren. Jennys Wahl des protestantischen, adligen, preußischen Leutnants Pannewitz konnten sie eigentlich nur gutheißen, zumal die Mitgift der Braut bescheiden war. Inwieweit sie zur Entlobung rieten, ist nicht zu belegen.
Die Trennung war letztlich ein guter Schritt. Wäre Jenny mit Karl von Pannewitz in den Stand der Ehe getreten, wäre ihr Leben typisch für eine Adlige verlaufen. Sie hätte in ihren Kreisen verkehrt, hätte standesgemäß repräsentiert und ein materiell abgesichertes Leben geführt – allerdings mit dem Risiko, wie manche Frauen ihrer Zeit aus Mangel an geistiger Anregung zu verkümmern.
Die „harte, empfindliche Lehre“ war schnell abgehakt. Schwägerin Louise meinte nun mitfühlend: „Da Jenny die Bälle wieder besucht, so nehmen wir denn an, daß auch ihr Trübsinn hoffentlich mehr und mehr weicht.“ 24 Bald träumte die Baronesse wieder von der großen Liebe. Interessante Männer gab es in der Garnisonsstadt einige, und sie würde schon einen passenden Mann aus ihren Kreisen finden. „Die Betheiligung an den gesellschaftlichen Verhältnissen Triers hatte sich im Hause meiner Eltern einigermaßen gesteigert, indem die Mutter, in lebhaftem Interesse für den Eintritt ihrer Tochter Jenny in die Welt, den gesellschaftlichen Verpflichtungen ihre ganze Aufmerksamkeit zuzuwenden sich gedrungen fühlte, so weit dies irgend mit den beschränkten Einnahmen des Vaters zu vereinigen stand“ 25, bemängelte Ferdinand in seinen Lebenserinnerungen die kostenintensive Heiratspolitik der nach Höherem strebenden Stiefmutter. Caroline zog alle Antipathie auf sich, war der Sündenbock, nicht der gute Vater.
Die Entwicklung der Kinder Ferdinand, Franziska und Lisette aus der ersten und Jenny und Edgar aus der zweiten Ehe von Ludwig von Westphalen, Carl lässt sich nicht eindeutig zuordnen, verlief unterschiedlich. Die Diskrepanz lässt sich besonders gut an Jenny und Ferdinand, den dominierenden Kindern, ausmachen. In ihrem politischen und gesellschaftlichen Denken gab es erhebliche Unterschiede. Ferdinand empfand beispielsweise die bürgerliche zweite Frau des Vaters bereits als Pubertierender als nicht standesgemäß, trotz ihrer Zugehörigkeit durch die Heirat zum Adelsstand. Auch wenn ihm nachgesagt wurde, er sei in jugendlichem übermut liberal und systemkritisch eingestellt gewesen, war dies bei ihm wie bei so vielen nur eine kurze Phase. Ferdinand internalisierte die Grundsätze seines feudalistisch geprägten Staates, war für Karl Marx ein Aristokrat „comme il faut“. Möglicherweise hätte er anders empfunden, wenn er seine Entwicklungsjahre in Trier verbracht hätte. Seine Schwester Jenny diskutierte zu Hause in aller Offenheit mit dem Vater, Edgar und Karl über die Missstände in Staat und Gesellschaft und dabei war ihr nicht verborgen geblieben, dass der Vater aufgeschlossener für die Anliegen des liberalen Bürgertums war, als er offiziell zugeben durfte. Jenny erlebte, dass auch Nicht-Adlige über Geist und Ausstrahlung verfügten, so Heinrich Marx und sein Sohn Karl. Inwieweit die Mutter ihre bürgerliche Herkunft thematisierte, ist nicht belegt, aber da auch Vater und Schwester Heubel im Haushalt lebten, gab es keine Standesunterschiede in Jennys engstem Umfeld. Es kam der jungen Frau nie in den Sinn, die Mutter geringer zu achten, nur weil sie bürgerlich war. Sie war im Gegensatz zu Ferdinand ohne Vorurteile und überlegenheitsgefühl anderen Menschen gegenüber.
„Jenny sei ein schwer zu lenkendes Mädchen mit einem Gerechtigkeitsgefühl gewesen, das zu leidenschaftlichen Ausbrüchen führen konnte und einem Wissensdrang, der sie schon als Kind zu den Büchern greifen ließ. Sie habe sich als Vertreterin des ,Jungen Deutschland‘ auf die Seite der Radikalen gestellt. Es sei so weit gekommen, dass vermieden werden musste, den Bruder Ferdinand und das stolze Mädchen sich begegnen zu lassen. Mit der leidenschaftlichen überzeugungstreue der Frau, der Jugend und der revolutionären Politikerin habe sie das Hinterwäldlertum der bürgerlichen Welt gegeißelt. Die Stiefschwester Lisette habe zwar anschauungsmäßig auf seiten des Bruders gestanden, menschlich sich jedoch durch die märtyrerhafte überzeugung, die Reinheit der Leidenschaft und das glühende Herz der Schwester angezogen gefühlt, der um der Gerechtigkeit und Liebe willen das Los der vom Schicksal Betrogenen, der Proletarier, naheging“ 26, beschrieb ein Enkel Lisette von Krosigks die Entwicklung Jennys Jahrzehnte später.
1831/32