Die Rheinprovinz und insbesondere deren Regierungsbezirkshauptstadt Trier waren für die preußische Regierung angesichts dieses Herrschaftsverständnisses keine leicht zu regierende Region. Hinzu kam die schlechte wirtschaftliche Lage. Die Befreiungskriege 1813/14 hatten einen hohen Tribut bei der Zivilbevölkerung gefordert. Blüchers Stabschef, der spätere Generalfeldmarschall Gneisenau, berichtete, er habe noch nie so ausgemergelte und ausgehungerte Gestalten gesehen wie in der Trierer Gegend, mit einer Ausnahme, nämlich französische Kriegsgefangene in russischen Lagern. Mit diesen Bildern vor Augen wurde Oberbürgermeister Wilhelm von Haw bei der preußischen Regierung mit der Bitte vorstellig, die wirtschaftliche und finanzielle Misere in seiner Stadt zu mildern. Die von ihm zur Bekämpfung der Armut der „untersten Volksklasse“ geforderten 1.500 Taler wurden nicht bewilligt, man stellte lediglich 600 Taler zur Verfügung. Der Oberbürgermeister beschrieb 1830 die Stimmung in seiner Stadt: „Oft muß man hören, dass die Einwohner als französisch gesinnt, als der preußischen Regierung abgeneigt beschrieben werden und beschuldigt werden. Eine so unvernünftige Beurteilung, die wir von vielen uns ganz fremden Beamten, die das Land nicht kennen, die Denkart der Einwohner nicht verstehen und unter denen manche durch einen perfiden Gegensatz sich geltend zu machen suchen, erlitten haben, ist eine empörende Misshandlung. Wer zu denken, zu vergleichen und zu verurteilen vermag, der weiß, dass in Hinsicht auf die Volksstimmung die übergänge nicht zu erzwingen und wesentliche Veränderungen nur von der Dauer der Zeit zu erwarten sind. Umgeben von Tumult, Aufruhr und Empörung, hat die Rheinprovinz ungeachtet aller Keime der Unzufriedenheit die öffentliche Ruhe und Ordnung bewahrt. Im Vertrauen auf die Gerechtigkeit und die Einsichten des Königs werden wir eine bessere Zukunft ruhig abwarten. Lindere man den Druck der unerträglich gewordenen Steuern, dann werde ich mich innig freuen, und alle rechtlichen mit mir, beteuern zu können, dass die Rheinländer und namentlich die Trierer mit wahrer Liebe für die Person des Königs Ergebenheit und Anhänglichkeit für die Regierung vereinigen, daß man auf ihre unverbrüchliche Treue und unbeschränkte Zuneigung zählen dürfe.“ 1 Falsche Anschuldigungen von Beamten, die unfähig waren, die Situation der Bevölkerung zu verstehen, wurden hier verbrämt angeprangert. Und solange die empörenden, ruinierenden Steuern auf den Einwohnern lasteten, konnte man nicht verlangen, dass der König und mit ihm die Preußen beliebt waren. Die Politik der Herrschenden, getrieben von der Angst vor der eigenen Bevölkerung und einzig auf den Machterhalt einiger Cliquen zielend, wurde von vielen rigoros abgelehnt. Die „Trier’sche Zeitung“ setzte sich für Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit ein und trotz scharfer Zensur war sie für den Oberpräsidenten der Rheinprovinz „eins der radikalsten Blätter deutscher Sprache.“ 2 über Jahre hinweg unterstützten die Redakteure die kritische Haltung der Bürgerschaft und forderten politische und soziale Reformen ein.
In Trier befürchteten die preußischen Behörden wiederholt Unruhen, denn aus Sicht des Historikers Gemkow gab es „Vorzeichen ... bereits in Form von Drohungen und Missmut bei den Unterprivilegierten. Der Regierungsbezirk Trier galt hinsichtlich des Lebensstandards der Bewohner als der schlechteste, erbärmlichste im preußischen Hoheitsgebiet. Die seit Jahren zunehmende Not der unteren Schichten, die drückenden Mahl- und Schlachtsteuern, die wachsende Zahl an gerichtlichen Pfändungen und Versteigerungen, an Konkursen und Verpfändungen in der Stadt – bis in die Mittelklasse hinein – machten die Einwohner 1830 empfänglich für revolutionäre Einflüsse. Mannigfache regierungs- und preußenfeindliche Aktivitäten in Trier ließen die Behörden sogar einen politischen Aufstand befürchten.“ 3 In solch einer preußischen Behörde war Jennys Vater federführend; neben Hospitälern und Wohltätigkeitsanstalten fielen in sein Ressort Gendarmerie und Gefängnisse. Der liberale, königstreue Beamte hoffte in einem Brief an Friedrich Perthes, den Vetter seiner Frau, auf die „Weisheit und vaterländische Huld“ des Königs, „dass aus der gegenwärtigen Verwirrung der gleichsam aus ihren Angeln gehobenen politischen Welt die wahre Freiheit im unzertrennlichen Bunde mit der Ordnung und Vernunft, gleich einem Phönix aus der Asche hervorgehen werde.“ 4 Westphalen hielt es für einen Fehler, die noch von der französischen Verwaltung eingeführte Personal- und Mobiliarsteuer durch eine viermal höhere Klassensteuer zu ersetzen, denn damit werde die Verelendung nur gesteigert. In einem Rechenschaftsbericht von 1829 monierte er, „daß (es) der mittleren und geringen Klasse der Landbewohner an Arbeitsverdienst und Erwerbsmitteln fehle.“ 5 Es bleibe demzufolge nur eine Gruppe von ländlichen Bewohnern übrig, der es gut gehe, nämlich die obere Klasse, die durch einige Großbauern und adlige Großgrundbesitzer repräsentiert werde. Er machte auf „wirklich vorhandenen großen Nothstand“, zunehmende Verarmung und großen Geldmangel, auch bei der Mittelschicht, aufmerksam und verwies auf die äußeren Anzeichen der prekären Lage. Viele Häuser waren trotz schöner Fassaden baufällig und 30 größere Häuser standen nach dem Abzug der Franzosen leer. Es gab keine Wasserleitungen, höchstens einen Hausbrunnen, und das Schmutzwasser wurde in die Straßenrinnen gekippt. Ratten und Ungeziefer und demzufolge Krankheiten und Epidemien blieben nicht aus. 1849 und 1865/66 forderten Cholera-Epidemien viele Todesopfer in Trier.
Die Wirtschaft stagnierte. Man zögerte, in der Grenznähe Industriebetriebe anzusiedeln, denn wozu investieren, wenn man nicht wusste, wann sich die preußische Armee mit französischen Truppen in diesem Gebiet wieder bekriegen würde? Um die Truppen im Bedarfsfall schneller aufmarschieren lassen zu können, wurde 1860 eine Eisenbahnverbindung zwischen Luxemburg, Trier und Saarbrücken gebaut.
Der einstmals schwungvolle Weinhandel lag am Boden und führte zu einer Verelendung der Winzer. Ludwig Gall (1791 – 1863), Regierungssekretär, Erfinder und Sozialtheoretiker, prangerte das Elend in Trier in seinem 1825 erschienenen Buch „Was könnte helfen?“ an und machte Vorschläge zur Verbesserung. Gall half konkret, indem er 1854 zur Verbesserung des Weines das heute nicht mehr zulässige Verfahren der „Nasszuckerung“ propagierte und damit den Winzern an der Mosel ihre Existenz sichern half. Ludwig von Westphalen wird Gall gekannt haben.
Die Arbeitslosen, Winzer und Tagelöhner aus dem Umland drängten in die Stadt und vergrößerten die Zahl der Armen. 1834 wurde die Straßenbettelei verboten, aber diese Anordnung ließ sich nicht durchsetzen, die Not war zu groß. Das Elend zeigte sich auch daran, dass viele Kinder die Schule nicht besuchen konnten, weil sie nicht in Lumpen im Unterricht erscheinen sollten. Holzdiebstahl und Forst- und Feldfrevel nahmen zu und mit dem Zuzug des Militärs stieg die Prostitution erheblich an. 6 Das Militär, das 10 – 15% der Bevölkerung ausmachte, war ein besonderer Kostenfaktor, da die Stadt für dessen Verpflegung und Einquartierung zumindest teilweise zuständig war. 7 Von der Bevölkerung gehörten 21% zur Mittelschicht und nur 1% zur Oberschicht. 78% der Stadtbevölkerung vegetierten am Existenzminimum, ein Viertel davon lebte von Fürsorge und Almosen. Von 16.973 Einwohnern (mit Frauen und Kindern) erfüllten 1846 nur 728 Männer über 25 Jahren die Bedingungen für das Zensuswahlrecht, das ein Jahreseinkommen von mindestens 300 Talern vorschrieb. Da sich für den Mittelstand zunehmend eine Verelendung abzeichnete, stieg die Aussicht auf soziale Unruhen in einer breiten Bevölkerungsschicht.
Die Ungerechtigkeit des Systems bereitete Vater Westphalen Sorgen und er verschwieg seine Befürchtungen zu Hause bei der aufgeweckten jungen Jenny, bei Sohn Edgar und dessen Freund Karl im nachmittäglichen Kreise nicht. Jenny hatte den Vater einige Male auf seinen Inspektionsreisen begleitet und wurde dabei auf die bittere Not der Menschen aufmerksam. Das Elend der Landbevölkerung, der Bauern und