Klein-Jennys fröhliches, unbeschwertes Leben wurde durch eine Krankheit ihrer jüngeren Schwester jäh unterbrochen. Tage, vielleicht auch Wochen lang erlebte sie als Siebenjährige die wachsenden Sorgen um die kleine Schwester, die Hoffnungen und die Hilflosigkeit der Eltern. Am 3. April 1821 starb Laura mit vier Jahren an Stickhusten und schleichendem Fieber. Jenny vermisste ihre Spielkameradin und schloss sich nun noch inniger dem kleinen Bruder Edgar an.
Der Vater widmete ihr gerne seine Zeit, schließlich war sie die einzige Tochter, die bei ihm aufwuchs, deren Größerwerden er erleben durfte. Er vermittelte dem wissbegierigen Kind erste Kenntnisse in Lesen und Schreiben und als „Halbschotte“ war er daran interessiert, dass seine Kinder seine Muttersprache lernten.
Ob Jenny eine Schule besuchte, ist unbekannt. Die 1. Evangelische Pfarrschule in Trier kam für das adlige Fräulein nicht in Frage, da nur ein Lehrer für 100 Schülerinnen zuständig gewesen sein soll. Die Erziehungs- und Bildungsanstalt von Mme. de Staël oder das Institut von Thekla Bochkoltz schienen geeigneter, aber vermutlich blieb sie zu Hause, zumal die Schulpflicht nur für Jungen galt. Später durfte sie vielleicht dem Unterricht beiwohnen, der Bruder Edgar von einem Hauslehrer erteilt wurde. Es war nicht ungewöhnlich in Familien von Stand, die Töchter an den Privatstunden für die Jungen teilnehmen zu lassen und häufig lernten die Mädchen besser die Lektionen, waren wissensdurstiger als die jungen Herren, die zukünftigen Herrscher über Familie und Staat.
Jenny wurde laut Kirchenbuch zu Trier am 30. März 1828 in der heutigen Jesuitenkirche konfirmiert. Ihr Konfirmationsspruch lautete: „Ich lebe, aber doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“. Ein Motto, das man auf ihr späteres Leben übertragen kann, nur atheistisch verfremdet mit Karl Marx als Bezugsperson.
Die Familie von Westphalen verkehrte überwiegend im überschaubaren evangelisch-protestantischen Umfeld, und so war es nicht verwunderlich, dass sich Jenny mit der zwei Jahre jüngeren Sophie Marx anfreundete. Bald hatten beide ihre jüngeren Brüder Karl und Edgar im Schlepptau. Die vier bildeten viele Jahre lang ein Quartett. Jennys und Karls jüngste Tochter Eleanor erzählte später, sich auf Augenzeugenberichte ihrer Tanten Sophia Schmalhausen und Louise Juta berufend, „daß Mohr ein schrecklicher Tyrann war; er zwang sie, in vollem Galopp den Markusberg in Trier herunter zu kutschieren, und was noch schlimmer war, er bestand darauf, daß sie die Kuchen äßen, welche er mit schmutzigen Händen aus noch schmutzigerem Teig selbst verfertigte. Aber sie ließen sich das alles ohne Widerspruch gefallen, denn Karl erzählte ihnen zur Belohnung so wundervolle Geschichten.“ 3 Es fällt schwer zu glauben, dass diese Beschreibung sich auf die vier Jahre ältere Jenny bezieht. Sie war schon als junges Mädchen durchsetzungsfähig, übte Widerspruch und bediente sich überlegener Redensarten. Wenn dies alles nichts nützte, blockte sie ab, wurde bockig – und da ihr Umfeld so vernarrt in sie war, hatte sie es nicht schwer, ihren Willen durchzusetzen. Je älter sie wurde, desto mehr bestach sie durch ihre Schönheit und nahm durch ihren Charme die anderen für sich ein.
Traditionsgemäß war das Leben einer jungen adligen Frau ausschließlich auf Heirat, Kindergebären und Repräsentieren ausgerichtet und entsprechend wurde die Baronesse von Westphalen erzogen und unterrichtet. Lesen, Schreiben, Singen, Klavierspielen, Handarbeiten und Konversation auf Französisch und Englisch waren die Fertigkeiten, in denen man junge Damen von Stand unterwies. Mädchen erhielten keine Ausbildung, um eine Grundlage zum selbständigen Lebensunterhalt zu erlangen; dieser Gedanke war abwegig. Die Existenzsicherung war Aufgabe des Mannes.
Jenny von Westphalen wuchs in einer bildungsbewussten Familie auf. Bruder Ferdinand rühmte noch in seinen Lebenserinnerungen, dass der Vater „unsre Herzen und Gedanken noch in den späten Abendstunden durch seine köstlichen Vorlesungen“ 4 erfreute. Aus den Werken Homers, Ovids, Shakespeares, Goethes und der Romantiker las man sich gegenseitig vor. Shakespeares Dramen begeisterten Jenny und Karl besonders und sie übertrugen später diese Liebe auf die Töchter; Eleanor konnte schon mit sechs Jahren ganze Passagen aus der „Hausbibel“ auswendig aufsagen.
Bruder Edgar und Karl Marx, die seit 1830 das Gymnasium zu Trier besuchten, das heutige Friedrich-Wilhelm-Gymnasium, verbrachten ihre Freizeit gerne mit Ludwig von Westphalen. Da auch Jenny sich für alles Wissenswerte interessierte und klug argumentierte, brachte es der Vater nicht übers Herz, sie aus dem männlichen Kreise zu verbannen. Ein kleiner Trost, denn trotz aller Belesenheit, Kritikfähigkeit und genialer Geistesblitze konnte Jenny von Westphalen aufgrund ihres Frauseins weder gymnasiale noch universitäre Bildung erlangen.
Vater von Westphalen begnügte sich nicht mit geistiger Bildung, sondern lebte nach dem Motto: „mens sana in corpore sano“. Ein- bis zweimal täglich badete er – bei angemessenen Temperaturen – in der Mosel. „Er ermangelte auch nicht, uns, seinen Kindern die Befreundung mit dem kalten Wasser angelegentlich zu empfehlen, und wir, wenigstens Carl, Franzisca und ich … schlossen uns des enthusiastischen Vaters Beispiel möglichst eifrig an. Jeden Morgen um 5 Uhr wanderten wir mit dem Vater hinaus über St. Matthias nach dem ,Herrenbrünnchen‘, einem klaren Quell gesunden Wassers, und schlürften der Becher mehrere“ 5 , pries Ferdinand das Vorbild des Vaters. Ferner „stärkte (man) den Körper durch kalte Waschungen und Nachmittags-Wanderungen über Berg und Thal.“ 6 Jenny wird sich diesen Vergnügungen angeschlossen haben.
1 Krosigk, Jenny Marx, S.16
2 Krosigk, Jenny Marx, S.16
3 Krosigk, Jenny Marx, S.17
4 Gemkow, Aus dem Leben einer rheinischen Familie, S.510
5 Gemkow, Aus dem Leben einer rheinischen Familie, S.512
6 Gemkow, Aus dem Leben einer rheinischen Familie, S.512
Politische Sozialisation in der Grenzstadt Trier
Ludwig von Westphalen war dienstbeflissen und loyal, aber er gehörte nicht zum Typus des bornierten, stockkonservativen Staatsbeamten; im Gegenteil, er glaubte, dass es für seinen Staat gut sei, sich nicht der gesellschaftlichen Entwicklung entgegenzustellen, sondern den Bürgern Mitspracherechte zuzugestehen. Hatten nicht die Befreiungskriege gezeigt,