Anfang August war das Baby reisefähig, die Fahrtkosten hatten sich gelohnt und die Sehnsucht nach Karl stetig gewachsen, aber noch bewegte sich Jenny nicht aus Trier hinaus. Aufregendes war in preußischen Landen geschehen! Am 26. Juli 1844 war auf den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. ein Attentat verübt worden, und die Feier zur wundersamen Rettung des Allerhöchsten durften weder Freund noch Feind sich entgehen lassen. „Alle Glocken läuteten, Geschütze feuerten und die fromme Schar (begab sich) in die Tempel, dem himmlischen Herrn ein Halleluja zu bringen, daß er den irdischen Herrn so wundersam gerettet. Du kannst Dir denken, mit welch eigener Empfindung ich während der Feier die Heineschen Lieder las, und auch mein Hosianna mit anstimmte. ... Als ich das kleine grüne Heupferd, den Kavalleriehauptmann X., von verlorner Jungfrauschaft deklamieren hörte, glaubte ich nicht anders, als er meine die heilige unbefleckte Jungfrauschaft der Mutter Maria, denn das ist doch einmal die einzig offiziell konstatierte – aber von der Jungfräulichkeit des preußischen Staates! Nein, davon hatte ich das Bewusstsein längst verloren. Ein Trost bleibt noch beim Entsetzlichen dem reinen Preußenvolke, nämlich: dass kein politischer Fanatismus der Beweggrund der Tat war, sondern rein persönliche Rachlust“9, berichtete Frau Marx ihrem Mann. Von offizieller Seite war zunächst verkündet worden, ein politisches Komplott sei Ursache für den Anschlag gewesen. Allerdings musste diese Version dahingehend korrigiert werden, dass es sich um einen Einzeltäter handelte, der, so Jennys Ansicht, den „Mordversuch gewagt, aus Noth, aus materieller Noth“. Sie meinte zu ihrem Mann: „Geht es einmal los, so bricht es aus von dieser Seite – das ist der empfindlichste Fleck und an dem ist auch ein deutsches Herz verwundbar!“10 In der Tat nährte der Weberaufstand in Schlesien im Juni 1844 für Momente die Hoffnung, dass immer mehr Unterdrückte sich erhöben und es zu einem Flächenbrand käme. Das Militär bereitete diesem Aufschrei der hungernden Ausgebeuteten nach wenigen Tagen gnadenlos ein Ende. Trotz des bitteren Endes prognostizierte Frau Marx, dass in Deutschland zwar eine politische Revolution unmöglich sei, aber zu einer sozialen Revolution seien alle Keime vorhanden. Frau Marxens Erkenntnisse zu den Ereignissen im Sommer 1844 wurden im Wochenblatt „Vorwärts!“ anonym in einem „Brief einer deutschen Dame“ am 10. August 1844 abgedruckt.
Jenny Marx verlängerte Woche um Woche ihren Aufenthalt in Trier. Ein Grund war: „Jettchen Marx heiratete während meiner Anwesenheit.“11 Natürlich wollte Jenny zur Feier gebeten werden. Aber sie war sich bei ihrem Mann nicht sicher, ob sie eine Einladung erhalten würde, denn „mit den Deinen haben wir uns lange nicht mehr gesehen. Erst der große erhabene Besuch und jetzt die großen Vorbereitungen für die Hochzeit. Da ist man denn ungelegen, wird nicht aufgesucht und ist bescheiden genug, nicht wieder aufzusuchen. Die Hochzeit ist am 28. August.“12 Eine Hochzeit mit düsterer Seite nach Jennys Meinung: „Trotz all der Herrlichkeit wird Jettchen täglich elender, der Husten und die Heiserkeit nehmen zu. Sie kann kaum mehr gehen. Wie ein Gespenst geht sie einher aber geheirathet muß sein. Man findet es allgemein entsetzlich und gewissenlos. … Ich weiß nicht ob das gut gehn kann. … Ich habe keine Ahnung von dem Wesen der Deinen dabei lustig und vergnügt zu sein. Wenn das Schicksal sie nicht etwas dämpfte, man könnte sich vor ihrem übermuth nicht retten. Und die Prahlerei mit ihren glänzenden Parthien und den Brochen und Ohrringen oder Shals. Ich begreife und fasse Deine Mutter nicht. Sie hat uns selbst gesagt, daß sie glaubt Jettchen habe die Schwindsucht und läßt sie doch heirathen. Aber Jettchen soll es mit Gewalt wollen. Ich bin begierig, wie alles kommen wird.“13 Was gab es zu bekritteln, wenn Jettchen den Mann, den sie liebte, heiraten und die Angehörigen ihr einen glücklichen Tag bereiten wollten? Wäre Jenny von Westphalen an Jettchens Stelle gewesen, sie hätte darum gekämpft, noch auf dem Totenbett ihren Karl heiraten zu können. Ob Jenny geladen war, ist nicht gesichert, denn sie verlor kein Wort über die Hochzeit – bei ihrer Mitteilungsfreude ungewöhnlich.
Ihre Wissbegierde, wie sich alles entwickeln würde, war ein halbes Jahr später befriedigt: Henriette Simons, geborene Marx, starb im Januar 1845.
Das Kind war Mitte August längst gesund. „Dein Püppchen ißt eben sein Süppchen“, schrieb die Mutter an ihr „Lieb gut Herzens Herz … Du gutes, liebes süßes Schwarzwildchen. Du Väterchen meines Püppchens“14, doch sie blieb in Trier. Der Grund: „Der Humbug mit dem heiligen Rocke war den Sommer in vollem Gange“. Diese „Heilig-Rock-Wallfahrt“ war die erste straff organisierte Wallfahrt des Bistums Trier. Vom 18. August 1844 an machte Bischof Wilhelm Arnoldi den „Heiligen Rock“ der Öffentlichkeit zugängig, und mehr als 1,1 Millionen Pilger (manche sprechen von einer halben Million) sollen innerhalb von sechs Wochen die kostbare Reliquie bewundert haben. Jenny Marx war mittendrin und schilderte ihrem Mann das Geschehen: „In Trier ist schon ein Treiben und Leben, wie ich es nie gesehen habe. Alles ist in Bewegung. Die Läden sind alle neu aufgeputzt, jeder richtet Zimmer zum Logiren ein. Wir haben auch eine Stube bereit. Ganz Coblenz kommt und die crème der Gesellschaft schließt sich an die Prozession an. Alle Gasthöfe sind schon überfüllt. 210 Schankwirtschaften sind neu etablirt. … Täglich 16.000 Menschen. … Die Leute sind alle wie wahnsinnig. Was soll man nun davon denken? Ist das ein gutes Zeichen der Zeit, daß alles bis zum extrem gehen muß, oder sind wir noch so fern vom Ziel?“15 Frau Marx stand nicht alleine mit ihrer Kritik. Viele aufgeklärte Zeitgenossen sprachen sich gegen das „Götzenfest“ aus, weigerten sich, den Rock als echtes Gewand von Jesus Christus anzuerkennen, prangerten die wirtschaftlichen Interessen, die Habsucht der katholischen Kirche, die größten Profit erzielte, an und „sah(en) in der Wallfahrt eine politische Demonstration der Ultramontanen gegen die staatliche Ordnung.“16 Wirte, Anbieter von Schlafplätzen und Krämer hatten Hochkonjunktur, und dadurch machte die Kirche einen großen Teil der Trierer Bevölkerung dem Spektakel gewogen. Auch Jennys Mutter profitierte von der Vermietung einer Stube; sie brauchte jedes Zubrot, um Tochter und Enkelin zu verwöhnen. Doch Jenny wollte der Mutter nicht zur Last fallen: „Ich werde das Monatsgeld von 4 Taler von dem Rest des Reisegeldes bezahlen, so auch Arznei und Doktor. Die Mutter will zwar nicht; sie hat aber doch an der Kost mehr zu tragen, als sie tragen kann. Es ist ärmlich und doch anständig alles um sie herum. Die Trierer sind wirklich ausgezeichnet gegen sie und das versöhnt mich