Ab September 1841 diente Friedrich Engels in Berlin als Einjährig-Freiwilliger bei dem Garde-Fußartillerieregiment, einer Eliteeinheit, und studierte in seiner Freizeit – in schicker Uniform – an der Universität. Die Philosophie faszinierte ihn, Hegel insbesondere. Er wurde in den „Doktorclub“ aufgenommen und hörte von dem dynamischen Mitglied Karl Marx, das er zusammen mit Bruno Bauer in „Die frech bedräute, jedoch wunderbar befreite Bibel oder ,Triumph des Glaubens‘“ verewigte:
„Wer jaget hinterdrein mit wildem Ungestüm?
Ein schwarzer Kerl aus Trier, ein markhaft Ungetüm.
Er gehet, hüpfet nicht, er springet auf den Hacken
Und raset voller Wut, und gleich als wollt’ er packen
Das weite Himmelszelt, und zu der Erde ziehn,
Streckt er die Arme sein weit in die Lüfte hin.
Geballt die böse Faust, so tobt er sonder Rasten,
Als wenn ihn bei dem Schopf zehntausend Teufel fassten.“4
„Böse Faust“ und rastloses Toben beweisen, dass die Studienkollegen Marxens Wesen richtig beschrieben haben. In dem Heldengedicht beschrieb sich Friedrich Oswald alias Friedrich Engels auch selbst:
„Doch der am weitesten links mit langen Beinen toset,
Ist Oswald, grau berockt, und pfefferfarb behoset,
Auch innen, pfefferhaft Oswald, der Montargnard,
Der Wurzelhafteste mit Haut und auch mit Haar.
Er spielt ein Instrument: das ist die Guillotine …“5
Der Fabrikantensohn identifizierte sich offensichtlich mit der radikalsten Gruppierung in der französischen Nationalversammlung von 1791. Er hätte gerne mit der Guillotine das Lied des Todes gespielt, die Melodie des herabsausenden Beiles und der fallenden Köpfe.
Seit April 1842 schrieb Engels für die „Rheinische Zeitung“ kritische Berichte gegen die preußische Politik und begegnete bei einem Abstecher in die Kölner Redaktion Karl Marx. Marx „muß den elegant gekleideten und sich radikal gebärdenden Journalisten eher befremdlich gefunden haben – und der begegnete einem ungepflegten Ungetüm“6, meint der Marx-Biograf Raddatz zu der ersten Begegnung. Seiner Ansicht nach war Engels’ politische Meinung zu „Marx’´ Politikverständnis … zu dieser Zeit diametral entgegengesetzt, er…hält das Einschmuggeln kommunistischer oder sozialistischer Dogmen für geradezu unsittlich.“7 Chefredakteur Marx hatte sich von dem Gebaren und der Denk- und Ausdrucksweise der Berliner „Freien“, mit denen er im Doktor-Club so gerne verkehrt hatte, entschieden distanziert und damit auch von dem aufmüpfigen, radikalen Fabrikantensohn.
Auf Wunsch des Vaters brachte Friedrich Engels ab dem Winter 1842 in Manchester seine berufliche Ausbildung zu Ende. Dort lernte er die irische Arbeiterin Mary Burns kennen, die angeblich seit ihrem neunten Lebensjahr bei Ermen und Engels arbeitete, vielleicht aber, als sie Engels begegnete, ihr Dasein inzwischen als Dienstmädchen fristete. Sie wurden ein Liebespaar.
Während seiner fast zweijährigen Ausbildung in Manchester analysierte Engels die erbärmlichen Lebensumstände, die Verelendung und Ausbeutung der Fabrikarbeiter, unterstützt von Mary Burns, die ihm die elendesten Viertel in Salford und Manchester zeigte und ihn mit Arbeiter/innen zusammenbrachte. Somit waren die Eindrücke, die Engels 1845 in seinem Buch „Die Lage der arbeitenden Bevölkerung in England“ niederschrieb, auch ihr zu verdanken. Engels kritisierte ähnlich wie in seinen „Briefen aus dem Wuppertal“ die elenden Wohnquartiere, die Kinderarbeit, die berufsbedingten Krankheiten, die hohe Sterblichkeitsrate, die katastrophalen hygienischen Zustände und die Knebelung durch das Truck- und Cottagesystem. In diesem Zusammenhang bedauerte er auch den hohen Alkoholkonsum der Arbeiter, den er als Ausflucht aus ihrer ausweglosen Situation deutete.
Ausgerechnet der Fabrikantensohn Engels entwickelte wesentliche Kerngedanken zur sozialen Revolution. Ausgehend von „herbei geredeten“ Krisen, prognostizierte er, werde sich das Proletariat bilden und dieses werde „bald die ganze Nation mit Ausnahme weniger Millionäre ausmachen. In dieser Entwicklung tritt aber eine Stufe ein, wo das Proletariat sieht, wie leicht es ihm wäre, die bestehende soziale Macht zu stürzen, und dann folgt die Revolution.“8 Marx’ Angleichung an Engels’ Grundüberzeugung wurde das Fundament für ihre lebenslange Zusammenarbeit, die im Sommer 1844 begann. Nachdem Karl Marx und Friedrich Engels ihre übereinstimmung im Denken erkannt hatten, konnten sie sich nicht mehr voneinander trennen. Engels bezog sogar Quartier bei dem neuen Freund, als Frau Jenny mit Baby bei ihrer Mutter in Trier weilte.
Karl Marx und Friedrich Engels sahen sich nicht als Konkurrenten: Engels überließ Marx die intellektuelle Führung – nicht aus einem Unterlegenheitsgefühl heraus, sondern weil dieser ein großer Vordenker, ein Visionär war. Zudem hatte Marx sich universitäre Meriten erworben, die Engels zu seinem Leidwesen fehlten, aber er kompensierte dieses Manko durch seinen wachen Geist, seine Analysefähigkeit und Praxisbezogenheit. Er war dem Freund geistig und vom Schreibvermögen her ebenbürtig, das genügte ihm. Natürliche Großzügigkeit und großbürgerliche Selbstsicherheit, basierend auf Vermögen, waren seine Basis, während Marxens Selbstsicherheit auf seinen geistigen Fähigkeiten und seiner adligen Frau gründete. Liebknecht, der beide gut kannte, meinte, Engels sei im Umgang viel schroffer gewesen, nicht so gewinnend, zugänglich und liebenswürdig wie Marx. Auch rhetorisch war Marx der überlegene, obwohl sein Trierer Dialekt manchen etwas unverständlich war. „Arbeiter“ hatte sich aus seinem Munde für einen Zuhörer wie „Achtblättler“ angehört, und dieses Missverständnis wurde mit Freude weitererzählt. Engels war sprachbegabt, – er soll 12 Sprachen fließend gesprochen und insgesamt 20 beherrscht haben –, aber nicht sprechbegabt. „Er stottert in zwanzig Sprachen“, witzelte man und führte dieses Manko auf Nervosität zurück. Und doch beneidete Karl Marx