Problemzone Ostmann?. Ellen Händler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ellen Händler
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783838275406
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mir die letzte Kraft genommen. Als mir mein Arzt sagte, dass ich aufhören müsste, sonst gebe es für mich nur noch Grab oder Klapsmühle, zog ich die Reißleine. In einer Abschiedsrunde mit all meinen Freunden, Mitarbeitern, Bauarbeitern ließ ich diese wichtigsten Lebensjahre Revue passieren. Dabei waren auch meine wissenschaftlichen Ratgeber der beiden Ausstellungen über das KZ und die Naturkunde, die wir gemeinsam dort gestaltet hatten. Wir packten unsere Koffer und stürzten uns in das nächste Abenteuer: die bedeutend kleinere Jugendherberge in Chorin. Der bisherige Leiter hatte nach dem Tod seiner Frau zu trinken begonnen. Die Jugendherberge war verwahrlost. Innerhalb weniger Wochen sollte ich sie in einen vorbildlichen Zustand bringen. Man gab mir 480.000 Mark, damit die Herberge für die Weltfestspiele im Sommer 1973 in Berlin als Reservequartier für ausländische Touristen bereitstand. Dazu musste eine Zufahrt für Busse gebaut werden. Ich schaffte es wieder. Die ersten Gäste wurden die normale Belegung, die Reserve wurde nicht nötig. Ausgelegt war die Herberge für 99 Betten. Ab 100 Betten hätte dem Herbergsleiter ein höheres Gehalt zugestanden. Nach unserer Silberhochzeit 1975 reichte es meiner Frau. Wir hatten seit 1966 nie mehr in einer eigenen Wohnung, sondern immer in Zimmern der Herberge gelebt. In den zurückliegenden zehn Jahren machten wir zweimal Urlaub, davon einmal in einer Herberge, in der wir die 14 Tage doch gearbeitet hatten. Sie stellte mich vor die Wahl: »Entweder, wir ziehen zusammen von hier weg, oder du bleibst allein hier.« Daraufhin habe ich das erste Mal in meinem Leben aus persönlichen Gründen gekündigt.

      Ich schaute ins Protokoll des Parteitages, um nach einem Neubauwohngebiet zu suchen, in dessen Nähe ich Arbeit finden könnte. So kam ich auf Marzahn und die dortige Berliner Werkzeugmaschinenfabrik. Beim Kaderleiter fragte ich, ob er einen Werkzeugmacher gebrauchen könne. Als er hörte, wie lange ich aus dem Beruf war, schlug er mir vor, für die Produktionsvorbereitung die Produktionslenkung zu übernehmen. Die Erfüllung meiner zweiten Bitte, eine Wohnung zu bekommen, dauerte noch sehr lange. Schneller als alles andere wurde ich Innendienstleiter der Kampfgruppe* des Betriebes. Endlich, nach einem Jahr und Krach mit dem Kaderleiter, nahmen sie mich in die AWG* auf. Für eine Wohnungszuweisung war es notwendig, selbst Arbeitsstunden zu leisten. Die durfte ich nach Feierabend im Betrieb ausführen. In der Abteilung Feinmechanik habe ich nach meinem ersten Feierabend oft bis spät abends entgratet, und das ein halbes Jahr lang. Ich habe darüber Buch geführt. Ich bekam die Wohnung und suchte mir eine Zweizimmerwohnung mit Balkon aus. Wir dachten, dass unsere Tochter irgendwann ausziehen und es für uns reichen würde. Wichtig war der Fahrstuhl. Hier wohne ich noch heute. Ich hatte die Wohnung noch nicht bezogen, da kam die Partei und meinte: »Jetzt, wo du in der Nähe eine Wohnung in Aussicht hast, brauchen wir dich unbedingt für das Gebiet um das Dorf Marzahn als Parteisekretär.« Ich ließ mich breitschlagen und startete mit 18 Genossen verstreut über ganz Marzahn und Hellersdorf. Das habe ich bis 1990 gemacht. Dann waren wir 420 Genossen und ich schlug eine Teilung vor. Nachdem ich geholfen hatte, drei Leitungen zu bilden, vergaß mich meine Partei. Keiner war hier, niemand wollte meinen Parteibeitrag, lud mich zu Parteiversammlungen ein. Sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, vielleicht auch aus Selbstschutz. Mich sprechen die Leute bis heute an. Niemals ist mir einer blöde gekommen.

      Anfang April 1995 kam Inge vom Briefkasten mit einem Schreiben vom FFO-Reiseclub. »Ich habe dir doch gesagt, dass du noch einmal nach Italien kommen wirst.« Sie erinnerte sich daran, dass ich 14-jährig ein paar Wochen im Postkinderaustausch in Pesaro und in Rom war. Alt war mein gehegter Wunsch, noch einmal an der Adria spazieren zu gehen. In Rimini kamen wir beim Strandspaziergang an einem Gebrauchtwagenhandel vorbei. Inge bemerkte als erste einen roten Opel Corsa Swing. »Das ist ein schöner Wagen: Fünftürer, Automatik-Getriebe ... Den müssen wir haben.« Im Autohaus in Marzahn fanden wir den Bruder. Mit unserem OCSI machten Inge und ich schöne Reisen. Gerade hatten wir die letzte Rate an die Bank bezahlt, da musste sich meine Inge für immer verabschieden. Der Krebs hatte zugeschlagen. Die Fahrt zum Balaton in Ungarn sollte die letzte sein. In den Folgejahren führte mich mein OCSI unfallfrei durch halb Europa. »Zoo-Safari« hießen die meisten Unternehmungen. Dazwischen, von 2001–2010, war er mein Transportmittel zur Arbeit in den Tierpark Berlin-Friedrichsfelde. 380-mal brachte er mich allein zu Einsätzen als Tierparkbegleiter in den größten Landschaftstierpark Europas. Zwischendurch klaute mir jemand auf dem Parkplatz die Kennzeichen und ›kaufte‹ dafür billig Sprit. 2013 sollte OCSI endgültig in Rente gehen, also in die Schrottpresse. Mein Nachbar hatte etwas dagegen: »Verkaufe uns doch den Wagen. Der Bruder in Armenien würde sich freuen.« Die Nachbarn sorgen sich liebevoll wie die eigene Familie um Opa Alfred. Ihre Angehörigen gehören zu meinem Freundeskreis. Es ist schön, dass solche Inseln des Zusammenlebens in der Gesellschaft mit den Ellenbogen erhalten blieben. Verschenken ging nicht, also verkaufte ich OCSI für einen Euro. Und er bekam ein zweites Leben. Im Container reiste er von Berlin über Hamburg mit dem Schiff bis ins Schwarze Meer nach Batumi (Georgien). Jetzt musste er nur noch 500 Kilometer mit eigener Kraft fahren. In der bergigen Gegend um Arteni in Armenien kann OCSI noch einmal so richtig zeigen, was in ihm steckt.

      Von meiner Arbeit als Tierparkbegleiter sprach ich bereits. Begonnen hatte es mit einem Kleingartenfest in Marzahn, das der Tierpark Berlin unterstützte mit einem Stand, hinter den man mich stellte. Ich hatte doch keine Ahnung von Zoologie. Also bin ich einfach bei einer Führung mitgelaufen. Kurz darauf bat man mich, eine Führung selbst durchzuführen. Es war jemand erkrankt. Ich habe alles notiert, die Anlässe, die Teilnehmer und die Tiere, die wir besuchten. Von 2001 bis 2010 waren es 380 Einsätze mit 3.421 + X Personen, davon 2.099 plus X Kinder. Das Plus X steht für die, die ich nicht zählen konnte. Größter Renner waren die Kindergeburtstage. Die 171 Kindergeburtstage bei den Elefanten machten nur einen kleinen Teil aus. Das Geburtstagskind konnte sich sein Lieblingstier aussuchen, das wir besuchten. Die Runde dauerte immer eineinhalb Stunden. Am Anfang sagte ich immer: »Kinder, nehmt mir das nicht übel, aber ich habe keine Ahnung, fragt ruhig weiter. Wenn ihr morgen wiederkommt, kriegt ihr die Auskunft.« So fuhr ich jedes Mal vom Tierpark nach Hause und vervollkommnete mein Wissen über das Internet und Bücher. Im Jahr 2001 kam ich auf die Idee, eine Kollektion zum Anfassen aufzubauen. Die Kinder konnten dabei die unterschiedlichen Felle fühlen und streicheln. Ich bin ein bisschen stolz darauf, dass ich persönlich 135 Zoos in vielen Ländern besucht habe. Heute helfe ich im Norden von Berlin noch einem Wildkatzenzentrum, schreibe die Schilder für die einzelnen Gehege. Jetzt fahre ich mit meinem Rollator. Nachdem meine Betreuerin mich morgens duscht, mache ich ein kleines Nickerchen. Danach setze ich mich täglich für ein paar Stunden an den Computer und arbeite vor allem an unseren Familienstammbäumen. Und da kann ich noch viel beisteuern.

      Ost: Lehrer, Schallplattenunterhalter, West: Lehrer, DJ

      Mitarbeiter Kreiskabinett für Kulturarbeit, Heizer

      Seit meiner Schulzeit

      lege ich als DJ Musik auf

      Ich bin in N. geboren und lebte bis auf die Jahre meines Studiums immer hier. Direkt nach dem Abitur ging ich nach Berlin an die Humboldt-Uni, um Lehrer für Mathe und Physik zu werden. Der Kelch der Armee ging zum Glück an mir vorbei. Anfänglich war ich sehr unsicher, was ich studieren sollte, Lehrer oder etwas Technisches. Dass meine Wahl gut war, merkte ich während meines ersten Praktikums. Ich konnte gut mit Kindern arbeiten und bekam ziemlich schnell ein Vertrauensverhältnis zu ihnen. Nach dem Studium kehrte ich an meine eigene Schule zurück und spürte bereits in der Vorbereitungswoche und im Gespräch mit dem Schulleiter Ablehnung wegen meines Äußeren. Er sagte: »So fangen Sie nicht an zu arbeiten. Die Haare sind zu lang, der Bart muss ab, und Sie ziehen etwas anderes an – keine Westjeans und Parka.« Das kümmerte mich wenig und ich erschien am ersten Schultag unverändert. Meine Auseinandersetzungen mit dem Direktor und später dem Schulrat waren völlig absurd.

      Interessant war für mich nach der Wende, dass dieser Schulleiter IM* war. Immer wieder versuchte man, mich zu drangsalieren, und sei es, mich auf »freiwilliger Basis zur sozialistischen Hilfe« zu schicken. So lernte ich in meinen ersten zwei Jahren zehn Schulen im Umland von innen kennen, was eigentlich damals nach dem Absolventengesetz nicht zulässig war. Ich war also ständig zu Feuerwehreinsätzen unterwegs, wenn irgendjemand für längere Zeit erkrankte. Manchmal war ich an meiner Stammschule nur drei Tage in der Woche.

      Seit