Die Götter fürchteten sich vor einer unbewohnten Erde. Wie in allen Religionsmythologien brauchten die Götter den Kult der Menschen. In diesem Mythos wird ein Kampf zwischen Leben und Tod begonnen. Als Quetzalcoatl in die Unterwelt hinabsteigt, um die Menschheit neu zu schaffen, stellt sich Mictlantecuhtli diesem Vorhaben entgegen und erschwert die Aufgabe Quetzalcoatls. Zuerst stellt er ihn auf die Probe und gibt ihm eine Spiralmuschel zu blasen, welche keine Löcher aufweist. Würmer, Bienen und Hummeln eilen Quetzalcoatl zu Hilfe. Als er die kostbaren Knochen in seinen Besitz gebracht hat, fällt er in ein Loch, eine Falle, welche Mictlantecuhtli hatte graben lassen. Die Knochen werden zerstreut und untereinandergeworfen und von Wachteln angepickt. Xolotl, sein Zwillingsbruder oder Nahual, hilft ihm, nach kurzem Tod und Wiederauferstehung nach Tamoanchen zu gelangen. Quilaztli, eine irdische Gottheit, mahlt die Knochen, und Quetzalcoatl tut Buße, indem er sein männliches Glied über ihnen ausbluten lässt; auf diese Art erschafft er die Macehuale. Seinem Beispiel folgen auch alle anderen Götter, welche bereits in Teotihuacan Opfer dargebracht hatten, um die Sonne und den Mond zu schaffen; nun sühnen sie, um die Menschen zu verdienen. So beginnt das Leben in der Fünften Sonne, und aus den genannten Gründen wird der gewöhnliche Mensch Macehualli genannt, was heißt ›der, welcher durch das Opfer [der Götter] verdient wurde‹.«
Damit erweist sich die Funktion Quetzalcoatls als eine ganz ähnliche wie die von Jesus im jüdisch-christlichen Religionszusammenhang. Man begreift damit besser, in welche Aufregungen, Schwierigkeiten und Zweifel die Ankunft Cortes, den die Azteken für Quetzalcoatl hielten, diese gestürzt haben mag.
Die Situation ist durchaus jener vergleichbar, die entstehen würde, wenn in unsere Welt der abermals auferstandene Christus käme. Indem Quetzalcoatl mit der Erschaffung der jetzigen Menschen verbunden ist, die er durch Selbstopfer erreicht hat, klärt sich einmal die Bedeutung der Menschenopfer, und man sieht diese in einem nicht mehr so grausamen Licht. Wie sich der Gott für die Menschen opferte, will sich der Mensch für den Gott opfern.
Darüber hinaus wird auch verständlich, warum, über die Katastrophe des Untergangs des Aztekenreiches hinaus, gerade diese mythologische Gestalt in der Volkstradition und Folklore Mexikos weitergelebt hat. Sie hat mit dem Beginn der indianischen Welt zu tun. Sie steht für einen der wichtigsten religiösen Bezüge dieses Kulturkreises.
Der Mann, der in der Hängematte im Café Altamira liegt, der Mann, dem die Bilder aus der frühen Geschichte jenes Landes durch den Kopf gehen, in das er entflohen ist, um vergessen zu werden und das Paradies zu suchen, kennt das Argument, dass die Spanier nur deshalb Mexiko erobern konnten, weil sie mit ihren Musketen und Feldschlangen das überlegene Waffensystem besaßen.
Aber haben die Waffen wirklich alles entschieden? Wenn ihn diese Frage nicht loslässt, so deshalb, weil hinter ihr eine andere Frage steht, die ihn seit Langem beschäftigt: Wer siegt im Lauf der Geschichte? Wer geht unter? Wer überlebt? Nach welchen Gesetzmäßigkeiten regeln sich Überleben oder Untergang?
Es fallen ihm Sätze ein, die er kürzlich gelesen hat »Wenn die Azteken auch nicht selten überraschend aus dem Hinterhalt zuschlugen, so hielten sie sich doch an die altüberlieferten Kriegsregeln, und wenn sie Verträge schlossen, so hielten sie sich auch daran. Den Spaniern aber, die einen ›totalen Krieg‹ führten, war jedes Mittel recht.
Sie kannten keine Gnade und keine Duldung einer fremden Religion; für sie gab es nur eine einzige Religion, die Religion ihres Kaisers Karl V. ›Die Mexikaner unterlagen‹, sagte Jacques Soustelle, ›weil ihr Denken, das auf politischem und religiösem Gebiet einer überlieferten Vielheit gehorchte, einem Kampf gegen die Dogmatik der staatlichen und religiösen Einheit nicht gewachsen war.‹«
Der Schauspieler
... ein Wahlrecht, dass demjenigen Mann, der eine oder zwanzig große Zeitungen besitzt oder sich die Mühe macht, einige Millionen geschickt abgefasster Flugblätter drucken und verbreiten zu lassen, die Möglichkeit bietet, soviel Einfluss auf die Wahl zu gewinnen, als er nur immer mag. Ein Wahlrecht, das den Beichtstuhl und die Kanzel, das Ehebett und das Sterbelager zu politischen Propaganda-Zwecken gebrauchen lässt, ist in der Tat das freieste Wahlrecht der Welt.
B. Traven, Im freiesten Staate der Welt
Zurück durch die Zeit. Zurück durch den Raum. Zurück aus der Provinz Chiapas nach Wallensen in Niedersachsen, in die gute Stube der Familie Feige.
Aus dem Militärdienst heimgekehrt, hat sich dort der älteste Sohn eingerichtet. Er ist völlig verändert. Er bekennt sich plötzlich zu einer sehr radikalen Form des Sozialismus3. Oder war es gar Anarchismus? Durch seine Geschwister, die fast achtzig Jahre später glaubhaft über sein plötzlich erwachtes Interesse an Politik berichten, wissen wir um die Spannungen in der Familie, die sich dadurch ergaben. Wir wissen gar nichts darüber, wie es zu dieser Radikalisierung bei ihm gekommen ist.
Vermutungen sind möglich: Die Wut über den Drill und den Schliff bei den »Preußen«, also beim Militär; die Begegnung mit einem Menschen, der Eindruck auf ihn gemacht hat und ihm solche Gedanken nahebrachte, könnten der Anlass gewesen sein. Vielleicht aber ist er auch in einem Buch darauf gestoßen. Denkbar auch, dass die Aktionen der Anarchisten in Frankreich, die »Politik der Tat«, von der er in jeder Tageszeitung hätte lesen können, ihn begeisterten und mitrissen.
Nun klebt er Plakate an die Wände der guten Stube, und auf dem Buffet stapeln sich Flugblätter. Er nimmt keine Arbeit an, stattdessen probt er Reden. Die Arbeiter müssen über die Ausbeutung durch die Fabrikherren aufgeklärt werden.
Die Arbeiter haben nichts zu verlieren als ihre Ketten, aber eine Welt zu gewinnen. [ ... ] Der Arbeiter muss eines Tages die politische Gewalt ergreifen, um die neue Organisation der Arbeit aufzubauen; er muss die alte Politik, die die alten Institutionen aufrechterhält, umstürzen, wenn er nicht, wie die alten Christen, die das vernachlässigt und verachtet haben, des Himmelreichs auf Erden verlustig gehen will ... Gewalt ist es, an die man eines Tages appellieren muss, um die Herrschaft der Arbeit zu errichten.
Solche Sätze kommen in den Reden vor, die er übt. Die Eltern und Geschwister lauschen hinter der geschlossenen Tür, und was sie da hören, verstört sie beträchtlich. Was ist nur aus ihrem Otto geworden? Wer hat dem Jungen dieses rote Gift in die Hirnwindungen gespritzt? Kaum hat man einigermaßen sein Auskommen, ist gesichert gegen Krankheit und Alter, da muss dies geschehen. Wenn er noch wenigstens ein Sozi wäre. Die Sozialistengesetze, die die Partei in die Illegalität zwangen, sind 1890 aufgehoben worden. Dass man sozialdemokratisch wählt, dafür hätten zumindest die Landarbeiter in Wallensen noch Verständnis. Aber ihr Otto ist ja einer, der vor Gewalt nicht zurückschreckt. In seinen Reden kommt auch der Satz vor: »Dem guten Willen die offene Hand, dem schlechten die Faust.« Er findet die Sozialdemokratie, die auf parlamentarischem Weg Reformen anstrebt, zu zahm. Von ihm kann man hören, dass die Sozialdemokratie ein Papsttum züchte, schlimmer als die katholische Kirche.
»Kannst du dich nicht ein bisschen mäßigen, Junge«, bittet die Mutter, »wir werden in Verruf kommen, wenn das so weitergeht. Und immer diese Zänkereien mit Vater beim Abendbrot. Es hat doch nun mal keinen Zweck. Du wirst ihn nicht überzeugen. Und er dich nicht. Und die Welt ist auch immer noch die gleiche, seit sie Gott geschaffen hat.«
Er liest ihr als Antwort ein Zitat vor, das von seinem Lieblingsdichter Shelley stammt, ein Zitat, mit dem die biedere Frau wohl nicht viel anfangen konnte:
»Kein Gesetz hat das Recht, die Menschen abzuschrecken, Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit zu üben. Der Mensch soll die Wahrheit sprechen, bei welcher Gelegenheit auch immer. Eine Pflicht kann niemals ein Verbrechen sein; und was nicht verbrecherisch ist, kann folgerichtig auch nicht schädlich sein.«
Er war doch immer still, schüchtern, unauffällig – aber lass ihn reden oder schreiben, und plötzlich wird er frech, aufsässig, rücksichtslos und ungebärdig.