»Und was ist anständig, lieber Vater?«, fragt Otto. »Ist es etwa anständig, eine Frau für drei Monate ins Gefängnis zu schicken, nur weil sie behauptet hat, der deutsche Kaiser wisse wenig davon, wie ein Arbeiter lebe?«
»Lass den hohen Herrn aus dem Spiel!«
Otto schießt der Gedanke durch den Kopf, dass dieser hohe Herr vielleicht sein Vater ist. Nein, das kann nicht sein. So ein Scheißkerl ist nicht sein Vater, darf nicht sein Vater sein. Er verbittet sich das. Und dann fällt ihm ein, dass niemand sich seinen Vater aussuchen kann. Er muss grinsen. Das reizt Adolf Feige. Er springt plötzlich auf, haut die Faust auf den Tisch. Er nennt Otto einen Tagedieb, einen Faulenzer, einen Schmarotzer, einen vaterlandslosen Gesellen und was nicht alles noch. Adolf Feige stellt seinem Sohn ein Ultimatum:
»Entweder du hast dir bis nächste Woche eine Arbeit gesucht, oder ich werde deinen Krempel eigenhändig raus auf die Gass' werfen.«
»Ich gehe schon von allein«, sagt Otto, »und du kannst gewiss sein: Für immer!«
Das nimmt niemand ernst. Am nächsten Morgen ist Otto verschwunden. Er hat, wie sich später herausstellt, alles Geld von seinem Sparbuch abgehoben. Er hat seinen Koffer gepackt, den er während seiner Militärzeit gekauft hat.
»Wenn er nichts mehr zu fressen hat, wird er schon wieder heimkriechen, der Lauser«, sagt der Vater grob. »Das glaube ich nicht«, wagte die Mutter zu erwidern, »dazu ist er viel zu stolz.«
»Stolz würde ich das nicht nennen ... hochnäsig ... hat ja immer gemeint, er sei was Besseres. Und du und deine Leut ihr habt ihn auch noch darin bestärkt.«
»Und du und seine Geschwister ... ihr habt, seitdem er bei uns ist, immer auf ihm herumgehackt. Das hat auch alles noch schlimmer werden lassen.«
Otto kommt nicht zurück. Sie werden sich nach ihm umgehört haben, nachdem ihre erste Wut verraucht war. Bei ihrem engen Familienzusammenhang müssen sie erklären, warum Otto an diesem Geburtstag oder jener Hochzeit nicht teilnimmt.
Es gibt ein Bild von der Silberhochzeit der Eltern. Da hat man einfach einen anderen jungen Mann mitfotografiert, dem den Kopf abgeschnitten, und Ottos Kopf auf diesen Hals gesetzt. Otto selbst finden sie nicht.
Zum ersten Mal in seinem Leben hat er es verstanden, sich unauffindbar zu machen. Was er treibt, wovon er lebt, wie er sich durchschlägt, ist ein Rätsel.
Niemand hat es je in Erfahrung bringen können.
Er selbst hat später nur Andeutungen gemacht. Er habe als Agitator unter den Arbeitern im Ruhrgebiet gelebt und sei von dem kompromisslerhaften Verhalten der Sozialdemokratischen Partei schwer enttäuscht worden.
Nach den Erfahrungen der Revolution 1918, nachdem die Räteherrschaft im Freistaate Bayern und der sogenannte Spartakusaufstandes4 in Berlin durch die von einer sozialdemokratischen Regierung herbeigerufenen Freikorpsverbände niedergeschlagen wurden, wird er schreiben:
Der freiste Staat der Welt in der Tat: Wucherer und Schieber, Raubmörder und Mörder von Revolutionären leben in Wonne und Wollust. Arbeiter und Revolutionäre werden hingeschlachtet, in Gefängnissen und Zuchthäusern gemartert. Dass es einmal so kommen würde, wenn die Sozialdemokraten die Macht hätten, habe ich sozialdemokratischen Arbeitern bereits im Jahr 1905 gesagt.
Wenn das stimmt, und man traut ihm solche Äußerungen durchaus zu, dann sind die Folgen vorstellbar.
Ist er als Agitator dieser Partei oder einer Gewerkschaft aufgetreten, so dürfte ihn nach der Familie nun auch noch die Partei hinausgeworfen haben.
Eine Kommunistische Partei gibt es damals in Deutschland nicht. Es gibt einen linken Flügel, eine kleine Gruppe innerhalb der Sozialdemokratie, die dem Revisionismus, wie ihn Eduard Bernstein Ende des Jahrhunderts vorgeschlagen hat, energischer widerspricht als die Mehrheit der Partei, ein Grüppchen von Männern und Frauen, das unter Umständen mit Massenstreiks die bürgerliche Gesellschaftsordnung umstürzen will, wie das eben in diesen Jahren im zaristischen Russland versucht worden ist, eine Gruppe, die entschieden jedem Militarismus und allen Rüstungsprogrammen entgegentritt. Und sie haben es schwer, diese Männer und Frauen. Schwer auch mit den eigenen Genossen. Eine wichtige Persönlichkeit auf diesem Flügel der Partei ist Rosa Luxemburg, die sich allerdings zu diesem Zeitpunkt in Warschau in Haft befindet. Sie hat geholfen, die Revolution von 1905 vorzubereiten und ist festgenommen worden. Die deutsche Sozialdemokratie wird sie freikaufen.
Es fällt schwer, sich Otto Feige, der sich nun bald »Ret Marut« nennen wird, als linientreues, dem Revisionismus zuneigendes Parteimitglied vorzustellen. Aber bei aller Radikalität seiner Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und dem Wirtschaftssystem des Kapitalismus wird er auch immer ein eifriger Verteidiger der Rechte des Individuums sein. Er wird klar zu machen wissen, dass der Sowjetkommunismus mit seinem Gesellschaftsideal wenig zu tun hat. Im Grunde kritisiert er schon sehr früh, zunächst im Rahmen der bürgerlich-monarchistischen Gesellschaft, eine Form der Herrschaft, die später gerade in sozialistischen Staaten zu den fürchterlichsten Auswüchsen führt: die Bürokratie. Er widersetzt sich »der entsetzlichen Angewohnheit, alles … in ein Register einzutragen, in eine Rubrik zu bringen«. Verlogenheit empört ihn, Heuchelei ebenso.
Standesdünkel, die sinnlosen Kriege der imperialistischen Mächte, die das Lebensglück einfacher Menschen zerstören; die wahnwitzige Gewohnheit, Glück oder Unglück des Menschen von einem Stück Papier oder einem Stempel abhängig zu machen.
Hier muss nun auf einige Schriftsteller und einen Philosophen hingewiesen werden, mit deren Werken Otto Feige bzw. Ret Marut in dieser Zeit in Berührung gekommen ist. Da ist vor allem der Philosoph Max Stirner mit seinem Werk Der Einzige und sein Eigentum. Um besser Widerstand gegen Zeitgeist und Gesellschaft leisten zu können, wird darin dem Menschen geraten, ein Doppelleben zu führen: Als registrierte Person soll er sich untergehen lassen, für die Öffentlichkeit tot sein. Hinter der Maske eines Pseudonyms, die ihn tarnt und schützt, soll er die Position des »Empörers« um so entschiedener vertreten.
Ein anderer Gedanke knüpft sich an die geometrische Figur der Spirale. Das Leben ist eine Folge von Toden und Auferstehungen. Man muss untergehen, um sich in Wahrheit zu erfahren. Man muss sterben, um lebendig zu werden. Oder, um Stirner wörtlich zu zitieren: »Die Wahrheit besteht in nichts anderem als in dem Offenbaren seiner selbst«, (man könnte auch sagen der eigenen Identität) »die Befreiung von allem Fremdem, die äußerste Abstraktion oder Entledigung von aller Autorität, die wiedergewonnene Naivität.«
Es ist hier nicht die Frage, wie originell diese Philosophie ist, und was sich für oder gegen sie sagen lässt. In unserem Zusammenhang ist entscheidend, dass sie doch offenbar auf eine ganze Anzahl von Schriftstellern auf der Schwelle zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert beträchtlichen Eindruck gemacht hat. Romain Rolland greift in seinem großen Entwicklungsroman Johann Christof solche Gedanken auf, wenn er in der Einleitung zum letzten Band schreibt: »... was meine Seele war, ich werfe sie hinter mich wie eine leere Hülle. Das Leben ist eine Folge von Toden und Auferstehungen. Lass uns sterben, Christof, auf dass wir wiedergeboren werden.«
Der anarchistische Schriftsteller und Philosoph Dr. Ernst Samuel publiziert unter dem aus einem Anagramm gebildeten Pseudonym Anselm Ruest. Ein Verwandter von ihm, Salomo Friedlaender, der heute gerade wieder als Autor von phantastischen Kunstmärchen bekannt wird, dreht einfach das Wort »anonym« um und nennt sich Mynona. Gustav Landauer benutzt für frühe Arbeiten den Decknamen »Kaspar Schmidt«, bei dem es sich nun wiederum um den bürgerlichen Namen von Max Stirner selbst handelt. Inwieweit auch Tucholskys zahlreiche Pseudonyme – sieben an der Zahl – unter denen er in der Weltbühne schrieb, solche Wurzeln haben, wäre zu untersuchen. Fragt man sich ganz allgemein nach dem Grund für diese Lust am Pseudonym, so gibt darauf Rolf Recknagel in der Einleitung zu B. Traven/Ret Maruts Frühwerk eine meiner Ansicht