Der Mann der sich verbarg. Frederik Hetmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Frederik Hetmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783862871346
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Traven die Indianer bewundert: Die genossenschaftlichen Formen ihres Zusammenlebens sind dem Anarchisten2 sympathisch.

      Soweit Traven selbst, und nun meine Vorstellung: Ich stelle mir vor, dass es in Chiapas ein Café Altamira gibt, eine armselige Herberge, ein Blockhaus mit Vordach. Der Busch beginnt gleich gegenüber. Es ist Regenzeit, die dort gewöhnlich, wie ich von Traven weiß, von Anfang bis Ende September dauert. Ich weiß aus seinen Aufzeichnungen weiterhin, dass es auch dann nur drei Stunden ununterbrochen regnet und höchstens gegen Abend noch einmal ein heftiger Regenschauer niedergeht. Aber in jenem Jahr – es könnte doch sein! – regnet es mehr als gewöhnlich. Es hat so heftig geregnet, dass sie ihre Reise haben unterbrechen müssen. Der weiße Mann und sein Begleiter, ein Indio, sitzen, zur Untätigkeit verurteilt, in dieser primitiven Herberge, liegen vielleicht auch tagsüber in Hängematten, die langsam schaukeln, wobei die Stricke ein knarrendes Geräusch von sich geben. Durch das Bewusstsein des Weißen, der vor seinen Augen Regen rinnen sieht und dessen Körper gleichmäßig hin- und herbewegt wird, zieht als ein breiter Strom von Bildern die Geschichte jenes Landes, in das es ihn verschlagen hat.

      An die Azteken denkt er, jenes Volk, das Mexico City zum ersten Mal begründete, jenes Volk, für das die Begegnung mit den »weißen Göttern« zur Katastrophe wurde.

      Was war, ehe die Weißen kamen?

      Zuerst lebten die Azteken, wie ihre Annalen berichten, als ein wanderndes Volk. Nach ihrem Stammeshelden nannten sie sich Mexitli und gaben so diesem ganzen Land seinen späteren Namen. Um das Jahr 1090 brachen sie aus dem »Land der weißen Farbe«, Aztlan, auf. Ganz ähnlich wie das Volk Israel, dem sein Gott ein gelobtes Land versprochen hatte, vertrauten auch die Azteken auf das Wort ihres Gottes Huitzilopochtli, am Ende aller ihrer Irrfahrten würden sie in einer ihnen vorbestimmten Heimat glücklich werden.

      In den Chroniken über die Züge der Azteken werden Namen von Städten und Landschaften erwähnt, die aber nichts anders bedeuten, als dass diese Suche in alle vier Himmelsrichtungen führte. Am Ende – so wieder die mythischen Berichte – kommen die Azteken nach Tollan oder Tula, zum Weltmittelpunkt, unter dem man sich realgeschichtlich das Zentrum des zu dieser Zeit schon bestehenden Toltekenreiches vorzustellen hat. Sie empfangen dort die Gaben der höheren Kultur.

      Belegbar durch archäologische Funde ist, dass die Azteken an der Zerstörung Tollans beteiligt gewesen sind und etwa zwanzig Jahre dort gelebt haben. Dann aber setzten sie ihre Wanderung fort. Sie gelangten auf das Gebirgsplateau im Inneren Mexikos, in die Hochebene Anahuac, das »Land nahe dem Wasser«. Damit war die sich dort befindende Seenplatte gemeint.

      Allerdings ist diese Namensgebung erst durch die europäischen Geographen viel später erfolgt. Sie nahmen das aztekische Wort für »Meeresküste« und ordneten es dieser Hochebene voller Seen zu. Über die Wanderungen der Azteken berichten alte Bilderschriften im Codex Boturini oder im Atlas Goupil-Boban, wie die fachmännischen Bezeichnungen für diese Manuskripte lauten. Sie beschreiben die Zeit von der letzten Sintflut bis zur Gründung der Hauptstadt des späteren Aztekenreiches in Tenochtitlan. In einer Schrift wird der Ort dieser Stadt als ein hoher Berg dargestellt, der aus dem Wasser aufragt. In einer anderen sieht man an diesem Ort einen Altar. In einer Höhle am Fuß des Berges gibt Huitzilopochtli Hinweise über den weiteren Verlauf der Reise. Und eine Zahl, die sich auf dem Bild findet, ermöglicht wieder eine historische Zuordnung dieses Ereignisses. Es könnte 1168 stattgefunden haben. Die Strapazen der Wandernden hatten zunächst noch kein Ende.

      Am »Berg der Heuschrecken« liefern sie sich mit den Nachkommen der Tolteken eine Schlacht. Sie werden besiegt und danach versklavt. Da sie sich als Krieger Verdienste erwerben – man vermutet, dass sie eine ihren Herren unbekannte Kriegs- oder Waffentechnik gekannt haben –, erhalten sie schließlich die Freiheit zurück und nehmen danach ihre Wanderungen über die Hochebene wieder auf. Sie erreichen die Inseln der Seenplatte. Dann vollzieht sich auf einer Insel im Texcoco-See ein orakelhaftes Ereignis:

      »Hier gewahrten sie einen Adler von außergewöhnlicher Größe und Schönheit, der auf einem Feigenkaktus saß. Seine Flügel waren gegen die aufgehende Sonne hin entfaltet, und in seinen Krallen hielt er eine Schlange. In dieser Erscheinung glaubten die Azteken das Zeichen des Himmels zu erblicken und legten daher dort den Grundstein zu ihrer künftigen Hauptstadt Tenochtitlan. Es ist derselbe Platz, den heute das Zentrum der Stadt Mexico einnimmt.«

      Zunächst dürfte sich an der Stelle in den Jahren zwischen 1325 und 1370 ein recht bescheidener Altar aus Binsen und Blättern, geschmückt mit den Abzeichen des Schutzgottes Huitzilopochtli, gestanden haben.

      Sehr schnell aber entwickelte sich eine blühende Stadt. Voraussetzung dazu war eine agrarkulturelle Großtat: die Anlage der »Chinampas« oder der »schwimmenden Gärten«.

      »Zunächst wurden rechteckige Flöße aus Flechtwerk und Schilf gebaut, auf die man etwa 1 Meter hoch schwarze Erde häufte. Hierauf legte man wieder eine Schicht Flechtwerk und Schilf, dann wieder Erde und so fort, bis die Flöße eine Höhe von 3 bis 5 Metern erreicht hatten. Nun konnte man sie bepflanzen, zunächst mit Gras und Schilf und an den Rändern mit Weiden, die dem Ganzen Halt gaben. Nach etwa vier Jahren haben diese kleinen schwimmenden Inseln durch die ständige Berieselung und Düngung mit immer wieder neu aufgetragenem Schlamm so viel an Boden gewonnen, dass man auf ihnen alle Arten von Gemüse und Blumen ziehen und sogar leichte kleine Strohhütten, Chinanales, errichten konnte.«

      Der kulturelle Sprung, den die Azteken taten, ist erstaunlich. Innerhalb von zwei oder drei Jahrhunderten scheinen sie von primitiven Jägern zu Ackerbauern und Stadtbewohnern geworden zu sein, wobei sie allerdings von früheren Kulturvölkern, den Teotihuakanern und den Tolteken viele Errungenschaften übernahmen, um aber danach alle Spuren dieser Einflüsse sorgfältig zu verwischen. Es wäre möglich, dass die Vernichtung der Staatsarchive unter dem Aztekenkönig Itzcoatl im 15. Jahrhundert eben zu diesem Zweck geschah.

      Eine weitere wichtige, machtpolitische Grundlage für den raschen und strahlenden Aufstieg des Aztekenreiches war der Bund der Staaten von Mexiko (der Azteken), von Texcoco und Tlocopan. Sie hatten vereinbart, sich in Kriegen gegenseitig zu unterstützen, und die Beute jeweils gerecht untereinander aufzuteilen.

      Recht bald führten Wohlstand, Sicherheit und kulturelle Fertigkeiten im Aztekenreich dazu, dass die Bevölkerung beträchtlich zunahm. Das Reich weitete sich bis zum Atlantischen und Stillen Ozean und bis in den Bereich der heutigen Länder Guatemala und Nicaragua hin aus. Die in Kriegen eroberten Gebiete wurden dem Kernland nie einverleibt, sondern mit Hilfe starker Garnisonen besetzt gehalten.

      Im Reich selbst gab es einerseits eine kleine Elite, zu der Krieger, Priester und Beamte gehörten, die sehr aufwendig und komfortabel lebten. Im Schatten standen die Bauern, die in ihren Stroh- und Lehmhütten inmitten von Maisfeldern und Agavenpflanzungen auch damals ein eher bescheidenes Dasein führten, aber das anspruchsvolle Leben der Oberschicht möglich machten.

      Allerdings war es auch genau diese Schicht der Bauern, die den Untergang des Reiches nach dem Eindringen der Spanier relativ unbehelligt überstand.

      Es ist erstaunlich, dass ein so großes, kulturell differenziertes Reich wie das der Azteken praktisch ohne Geld auskam. Die Steuern wurden in Naturalien erhoben, über ihre Einziehung, die jährlich, in manchen Gegenden sogar alle 80 Tage stattfand, wachten an jedem Ort Beamte, über ein gutausgebautes Straßennetz liefen nicht nur diese Einnahmen ins Zentrum des Landes, über sie trugen Kuriere auch Nachrichten über alle wichtigen Vorkommnisse nach Tenochtitlan. »Alle zwei Meilen war eine Post-Station, Techialoyan genannt. Ein Eilbote lief mit seinen Depeschen, die in der Form von hieroglyphischen Bilderbogen angefertigt waren, bis zur ersten Station. Dort wurden sie von einem anderen Eilboten in Empfang genommen und von ihm zur nächsten Station weiterbefördert. Auf diese Weise durcheilten die Nachrichten mit unglaublicher Schnelligkeit das Land. Besonders gut scheint das Stafettensystem auf dem Weg von der atlantischen Küste zur Hauptstadt funktioniert zu haben, denn schon wenige Tage, nachdem die Schiffe des Cortes auf der Reede des heutigen Veracruz Anker geworfen hatten, traf die erste Gesandtschaft Moctezumas (Montezuma ist die spanische Schreibweise des Namens) aus der 450 Kilometer entfernt gelegenen Hauptstadt bei Cortes ein und überreichte ihm Gastgeschenke. Zusammen