Ein vor den Bolschewisten1 geflüchteter Großfürst?
Ein Farbiger, der es gewagt hatte,
in den Südstaaten der USA eine weiße Frau zu lieben?
Ein deutscher Offizier aus dem Kapp-Putsch?
Ein Leprakranker,
so entstellt im Gesicht,
dass er sich niemandem mehr zeigen wollte?
Jack London,
der eingesehen hat, dass nichts erfolgloser ist
als Erfolg,
der Selbstmord vortäuschte,
in Yukatan untertauchte,
weiterlebte und weiterschrieb?
Die Frage: Wer war der Mann, der sich Traven nannte? haben die Detektive der Literatur weitgehend gelöst. Es war ein mühsames, langwieriges, kostenaufwendiges Geduldsspiel.
Am Ende steht das Bild des Mannes, der sich Anonymität wünschte, der vergessen zu werden wünschte.
Die Stationen seines Lebens sind nun genau bekannt. Er ist seiner Tarnung entkleidet. Als ob man jemandem die Kleider vom Leib gerissen hätte.
Wissensdurst Neugier, Scharfsinn, Sensationslust haben triumphiert.
Man kann über das Leben dieses Mannes einen Dokumentarfilm drehen. Jeder Fakt, jede Aussage ist mit Dokumenten belegbar. Aber wissen wir damit mehr über diesen Menschen? Wir kennen die Situation, scheinen außerordentlich genau informiert zu sein und wissen doch das Entscheidende nicht.
Eine Frage ist verlorengegangen im Eifer der detektivischen Ermittlungen. Es wird jetzt Zeit, sie zu stellen. Die Frage lautet: Warum versucht jemand mit aller Gewalt, die Welt den Namen, unter dem er geboren worden ist, vergessen zu lassen?
Warum versucht jemand unter soviel Eifer, Phantasie und Aufwand, in der Anonymität unterzutauchen?
Diese Frage ist die Frage meines Buches. Die Antwort, so behaupte ich, besagt nicht nur etwas über das Wesen dieses Mannes und über seine Zeit. Sie besagt etwas über uns.
In dem Zimmer, in dem ich schreibe, hängt ein Jutesack an der Wand, ein alter Kaffeesack aus Mexiko, auf dem steht in blauer Farbe, anzusehen wie eine Tätowierung,
CAFÉ ALTAMIRA
und darüber in verwaschenem Rot
ALTURA CHIAPAS.
Wer ist der Mann, der sich Traven nannte?
Schon längst habe ich mir vorgenommen,
diesen Sack mit Geschichten zu stopfen.
Was erlebte dieser Mann, der sich Traven nannte?
Was hat er gedacht, gefürchtet gewünscht?
Ich habe ihn für Euch ausgegraben.
Kommt her und beseht sein Leben.
Geburt
»Sie sollten aber Papiere haben, damit Sie mir beweisen können, wer sie sind«, sagte der Polizeioffizier.
»Ich brauche keine Papiere; ich weiß, wer ich bin«, sagte ich.
B. Traven, Das Totenschiff
Am 23. Februar 1882 gegen 10 Uhr morgens bringt in der damals zum Deutschen Reich, heute zur Volksrepublik Polen gehörenden Kleinstadt Schwiebus (Świebodzin) die 23jährige Textilarbeiterin Hormina Wienecke ein Kind männlichen Geschlechts zur Welt, das die Vornamen Hermann Albert Otto Maximilian erhält. Als Kindsvater gibt die Geburtsurkunde einen Adolf Rudolf Feige an, dessen Beruf mit »Töpfer« bezeichnet wird. Der Standesbeamte könnte aber stattdessen wohl auch Ziegelei-Arbeiter geschrieben haben.
Dieser Adolf Rudolf Feige ist der Sohn eines Webers aus Finsterwalde. Er ist um ein Jahr älter als die Kindsmutter. Er erkennt, was ja nicht selbstverständlich ist, die Vaterschaft am 30. Mai 1882 noch einmal ausdrücklich an. An eben diesem 30. Mai heiraten Adolf Rudolf Feige und Hormina Wienecke.
Zu diesen Fakten, die herausgefunden zu haben das Verdienst Will Wyatts ist, muss noch einiges angemerkt werden.
Mit ihren 23 Jahren ist Hormina oder Hermine, wie die deutsche Schreibweise dieses Vornamens lautet, nicht mehr gerade jung. Dass Mädchen vor der Ehe schwanger werden und darauf erst heiraten, war in der sozialen Gruppe, aus der Hormina kommt, so selten nicht. Die Moralvorstellungen in diesem Punkt sind im Bürgertum damals gewiss strikter als heute gewesen, in der Unterschicht war das nicht unbedingt so. Zu heiraten, das kostete Geld, und wer am Rande des Existenzminimums lebt, der ist gezwungen, sich unter Umständen über die Moral hinwegzusetzen. Der Grund dieser verspäteten Heirat kann ganz einfach gewesen sein.
Adolf Feige leistet zu dieser Zeit seinen Militärdienst ab, der im Deutschen Kaiserreich zwei Jahre dauert. Urlaub zu bekommen, um noch rasch zu heiraten, ehe das Kind geboren wurde, scheint damals nicht ohne Weiteres möglich gewesen zu sein. Adolf hat Hormina geheiratet, sofort, nachdem der Militärdienst beendet war.
Auch eine dritte Möglichkeit kann nicht ausgeschlossen werden, und es gibt zumindest einige nicht unwesentliche Indizien, die es nahelegen, diese Situation mit zu bedenken.
Hormina könnte ein Kind von einem anderen Mann erwartet haben. Der zahlt ihr eine Abfindung, mit diesem Geld wird ein Bräutigam gekauft, ein Mann, der etwas Geld gut gebrauchen kann. Später heiratet er die Kindsmutter.
Es gibt Gerüchte, denen zufolge der tatsächliche Vater des als Otto Feige ins Geburtsregister eingetragenen Kindes niemand anders gewesen sei als der spätere letzte deutsche Kaiser, Wilhelm II.
Wenn man Fotografien von Otto Feige als erwachsener Mann mit denen Wilhelm II. vergleicht, ist eine gewisse Ähnlichkeit vorhanden. Das allein ist natürlich kein hinreichender Beweis für die Vaterschaft des hohen Herren.
Andererseits ist auch der Umstand, dass der damalige Kronprinz Wilhelm um die Zeit der Zeugung des Kindes, genau am 26. Februar 1881, die Prinzessin Auguste Victoria von Schleswig-Holstein geheiratet hat und danach mit seiner jungen Frau als Offizier in Potsdam lebte, kein letztgültiger Beweis gegen den Wahrheitsgehalt solcher Gerüchte.
Mehr dagegen besagen schon die Meinungen seriöser Biographen, Wilhelm sei alles andere als ein Frauenheld gewesen, ja, er habe sich überhaupt zeit seines Lebens mehr zu Männern als zu Frauen hingezogen gefühlt.
Bei genauerer Betrachtung scheint an den Gerüchten betreffend die Vaterschaft Wilhelms II. kein wahres Wort. Wie sie entstanden sind, ist hingegen leicht erklärbar.
Die Schadenfreude und der Klatsch, als sich Horminas Schwangerschaft herausstellte. Getuschel hinter vorgehaltener Hand. So vielleicht:
»Ein hoher Herr soll's gewesen sein ... ein Adeliger, was Besseres eben, du verstehst schon, und der gutmütige Adolf hat sich's dann anhängen lassen müssen. Da sieht man's ja wieder mal. Mit Geld ist eben alles zu machen. Wer genug Geld hat, der kann sich sogar einen Vater für das Kind kaufen, das er so einem armen Ding anhängt.«
Die Phantasie der Menschen setzt sich selten enge Grenzen. Das Kitschig-Sensationelle ist manchem Arbeiter und Kleinbürger eine wunderbare Möglichkeit, sich aus der eigenen Bedürftigkeit und dem grauen und monotonen Alltag in das Märchendasein der Prinzen und Könige hineinzuträumen.
Wenn der Erste, der ein solches Gerücht aufbrachte, vielleicht noch von irgendeinem vornehmen, adligen Herrn gesprochen hat, wurde beim Zweiten, der das Gerücht weitererzählte, schon ein Herzog und beim Dritten schon ein Prinz daraus.
Auch die Vorbilder für solche Phantasien lassen sich benennen. Die Romane der Marlitt oder andere Trivialromane aus dieser Zeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts sind Beispiele. Der Traum vom armen Kind, dessen