Vom guten Tod. Reiner Sörries. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reiner Sörries
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783766642837
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das ihn vom Tier unterscheide. Oder was ist es sonst? Alle anderen Unterschiede wie etwa die Fähigkeiten kreativen Denkens und ein freier Wille, sein Sprachvermögen, die Wahlfreiheit usw. sind eher gradueller Art infolge einer höheren Entwicklungsstufe. Aber schon der Versuch, das Menschsein am Bewusstsein festzumachen, erweist sich als höchst problematisch. Embryonen, Säuglinge, geistig schwer Behinderte oder Komapatienten verfügen möglicherweise über ein derartiges Bewusstsein nicht und sind dennoch Menschen im Vollsinn. Muss man also deshalb nicht doch die Religion zu Rate ziehen, die in unterschiedlichen Ausprägungen dem Menschen eine immaterielle Seite zuweist, die wir etwa im Christentum Seele nennen? Wer jedoch diese immaterielle Wesenheit nicht akzeptiert, kann möglicherweise Schwierigkeiten haben, einen Mensch-Tier-Unterschied festzumachen, wird dies aber vielleicht auch nicht als problematisch empfinden. Warum soll man sich nicht auf die Regeln der Evolution verlassen, in der der Tod ein notwendiger und deshalb sinnvoller Baustein des Lebens ist?

      Die Natur favorisiert vor allem die Fähigkeit, mit den Herausforderungen des Lebens, speziell den sich wandelnden Umwelteinflüssen, fertig zu werden. Dies geschieht, so verdeutliche ich mir das laienmäßig, indem eine Generation ihr Wissen an die nächste weitergibt. Dies kann durch die Vermittlung bestimmter Sachverhalte geschehen, aber auch durch die Weitergabe genetischen Materials. Wenn sich die Gene von Mann und Frau vereinigen, so entsteht eine neue Variante des Erbgutes und damit die Möglichkeit, dass sich das Leben besser an die Bedingungen der Umwelt anpasst. Über die Natur sagte Johann Wolfgang von Goethe, das Leben sei ihre schönste Erfindung und der Tod ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben.1 Evolutionäres Ziel ist demnach kein ewiges, ja nicht einmal ein besonders langes Leben, sondern eine möglichst effektive und fortschrittliche Reproduktion. Dazu ist es dann nicht notwendig, dass die Elterngeneration ein hohes Alter erreicht, vielmehr hat sie ihre Aufgabe mit der Schaffung neuen Lebens und der erfolgreichen Aufzucht der Nachkommenschaft erfüllt.

      Sterblichkeit und zweigeschlechtliche Sexualität hängen evolutionär gesehen eng miteinander zusammen, weil sie beide demselben Zweck dienen. Es geht um die bestmögliche Selbsterhaltung und Weiterentwicklung der jeweiligen Spezies, und darin unterscheiden sich die höheren Organismen nicht voneinander. Die Evolution sorgt sich nicht so sehr um die Bedürfnisse des Einzelnen als vielmehr um das große Ganze.

      Im Folgenden wird es zunächst darum gehen, nach Gesellschaftsmodellen zu suchen, in denen diese evolutionäre Sichtweise ein tragendes Element der Sinnsuche sein kann.

      Mit dieser Verheißung an Abraham (Genesis 15,5) vollendet sich seine Lebensgeschichte, die bis in sein hohes Alter von Kinderlosigkeit bedroht war, und darin spiegelt sich ein Verständnis von Leben, das einer evolutionären Betrachtungsweise sehr nahe kommt. Denn ob ein Dasein sinnerfüllt ist, zeigt sich in der Weitergabe des Lebens an Kinder und Kindeskinder. Eine individuelle Erwartung eines Lebens nach dem Tod ist dem Alten Testament wie dem ganzen Orient fremd, weshalb sich die Frage nach einem guten Tod relativiert. Der Tod ist eine biologische Notwendigkeit. Wer stirbt, wird nicht wieder lebendig, heißt es bei Ijob (14,14), und gegen den Tod lässt sich keine Beschwerde führen (Jesus Sirach 41,3–4): Alle Menschen müssen sterben. Als guten Tod kann man einen ansehen, der nach einem langen und erfüllten Leben eintritt, und so sterben Abraham, Isaak oder Ijob alt und lebenssatt. Dann werden die Menschen zu den Vätern versammelt, wo sie in einem düsteren Totenreich ein trostloses Schattendasein führen.

      Im Gegensatz zu diesem Tod, der eintritt, wenn der Mensch satt an Tagen ist, was einer Spanne von siebzig oder achtzig Jahren (Psalm 90,10) entspricht, fürchtet man den unzeitigen Tod eines Kindes oder durch Krankheit, Gewalt, Krieg und Hungersnot, der das Leben unerfüllt abschneidet. Eine etwa daraus resultierende Kinderlosigkeit gehört zu den Schrecknissen eines vorzeitigen Todes. Von der Vorstellung eines guten Todes wird man im Alten Testament wohl absehen müssen; eher kann man von einem erfüllten Leben sprechen, wenn es in der Heimat und im Kreis der Familie geschieht, die dann auch für eine angemessene Bestattung sorgt. Der Tod an sich bleibt ein endgültiges und unwiderrufliches Geschehen. Man kann deshalb sagen, dass sich das Alte Testament in großer Nähe zu einer Interpretation gemäß der Evolution befindet. Wichtig ist der Fortbestand der Familie, der Sippe und des Volkes, weshalb die Zusage einer reichen Nachkommenschaft an Abraham mehrfach wiederholt wird (Genesis 22,17; 26,4).

      Erst in nachexilischer Zeit und vor allem in der jüdischen Apokalyptik entwickelt sich die Vorstellung von einer Gottesgemeinschaft des Frommen auch jenseits der physischen Todesgrenze, auf die hier aber noch nicht eingegangen werden muss. Wichtig ist jedoch, dass die Anfänge einer Auferstehungshoffnung das Volk als Ganzes betreffen, wenn Gott das Volk heilt und neu belebt gleich dem Geschehen in der Natur: „… denn er wird hervorbrechen wie die schöne Morgenröte und wird zu uns kommen wie ein Regen, wie ein Spätregen, der das Land feuchtet.“ (Hosea 6,3) Ebenso bietet die berühmte Erzählung von der Erweckung der Totengebeine (Ezechiel 37,12) ein Bild für die Wiederherstellung des Volkes Israel und für den neuen Exodus aus dem babylonischen Exil: „Siehe, ich öffne eure Gräber und ich führe euch herauf aus euren Gräbern und ich bringe euch ins Land Israel.“ Das Individuum spielt noch keine Rolle, und eine eigentliche Auferstehungsvorstellung findet sich erst in der apokalyptischen Literatur der hellenistischen Zeit.

      Die Vorstellung von einem guten Tod war im Alten Judentum nicht an die erhoffte Überwindung der Endlichkeit gebunden, sondern an die gelebte Fülle des Lebens und eine reiche Nachkommenschaft, womit deutlich wird, dass das evolutionäre Modell durchaus tragfähig sein konnte.

      Ein Sprung über Jahrtausende und gesellschaftliche Grenzen hinweg sei erlaubt, um in der Gesellschaft des sozialistischen Atheismus nach dem guten Tod zu forschen, der sich angesichts der Negierung eines individuellen Fortlebens ebenfalls anderer Strategien bedienen muss. Auch hier tritt an die Stelle der individuellen Auferstehungshoffnung die Zuversicht auf den Fortbestand und die Weiterentwicklung der sozialistischen Menschengemeinschaft, an der der Einzelne in mehr oder minder hohem Maße seinen Anteil hat. In einem streng biologischen Sinn beendet der Tod zwar das Leben einmalig und unwiederbringlich, Sinn stiftend ist jedoch das gelebte Leben, in dem der Mensch am Bau der Welt, am Bau einer besseren Welt beteiligt war. Der Tod löscht zwar das einzelne Leben aus, aber er kann die Lebensleistung des Menschen nicht vernichten. Noch ist das Trostpotenzial sozialistischer Trauerfeiern nicht wissenschaftlich aufgearbeitet, aber stellvertretend greifen wir den dritten und letzten Vers des Liedes „Flattert der Wimpel“ aus dem Liederbuch der Sozialistischen Jugend „Die Falken“ heraus, der diesen Geist spiegelt und bei Trauerfeiern gesungen wurde:

       Hat uns das Schicksal gepackt und gezaust, und sind wir einst alt und grau, ist unser Leben vorbeigebraust, fordert der Tod uns rau. Dann schauen wir noch einmal die Runde vom Meer bis zum Sternenzelt. Mit Mädel und Jungen im Bunde bauten wir uns’re Welt.

      Gibt es im atheistischen Materialismus keine individuelle Hoffnung über den Tod hinaus, so kann es dennoch einen guten Tod geben, der einen sinnvollen Lebensentwurf erlaubt und aus dem ein Tröstungspotenzial für die Angehörigen erwächst. Diese Erkenntnis für die Gestaltung weltlicher Trauerfeiern fruchtbar zu machen war ein Anliegen der Kulturpolitik in der DDR, die vor allem das Zentralhaus für Kulturarbeit der DDR in Leipzig mit der Ausarbeitung entsprechender Materialien beauftragt hatte. Die entstandenen Handreichungen lieferten sowohl die Grundlagen eines materialistischen Todesverständnisses als auch konkrete Entwürfe für Traueransprachen sowie Text- und Liedvorschläge.2 Wenn ein Mensch sterbend sagen kann, er habe sein ganzes Leben, seine ganze Kraft dem Herrlichsten in der Welt, dem Kampf für die Befreiung der Menschheit gegeben, so kann „ein in diesem Sinne bewusst gelebtes Leben … durch den Tod nicht ausgelöscht werden“3. Ist man dem Ziel nahegekommen, „sich als Persönlichkeit zu verwirklichen, seine Umwelt und sein Dasein schöpferisch zu vervollkommnen, wahrhaft menschlich zu gestalten“, dann stirbt man mit der „Gewissheit, dass die Spur seines Wirkens eingezeichnet bleibt im unaufhaltsam fortschreitenden Leben,