Vom guten Tod. Reiner Sörries. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reiner Sörries
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783766642837
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aber nicht gänzlich zu vermeiden ist. Deshalb sah sich der Mensch in seiner langen Entwicklungs- und Kulturgeschichte genötigt, dem Tod einen Sinn abzugewinnen, um nicht das Leben selbst sinnlos erscheinen zu lassen.

      In der aktuell in Europa geführten Debatte um die Sterbehilfe mehren sich jedoch die Stimmen, welche die märchenhafte Weisheit auch angesichts individueller, als unerträglich angesehener Umstände ins Gegenteil verkehren: Etwas Besseres als das Leben findest du überall, bei einem Menschen, der dir beim Sterben hilft, bei einem professionellen Sterbehelfer oder beim Arzt deines Vertrauens – das ist bei den geltenden Regeln zur Sterbehilfe in Europa (noch) von den nationalen Gesetzgebungen abhängig. Doch wie das in den einzelnen Ländern auch immer geregelt ist: Man darf von dem aufrichtigen Anliegen ausgehen, Menschen in einer als ausweglos und unerträglich empfundenen Situation einen guten Tod zu gewähren. Dabei ist die Frage nach dem guten Tod, der aus dem Griechischen abgeleiteten Euthanasia, viel älter als die gegenwärtige Debatte. Sie ist auch viel älter als jene Euthanasie, deren sich der verbrecherische Nationalsozialismus bedient hat, um unwertes Leben auszumerzen. Doch gerade diese vergleichsweise kurze Phase unserer Geschichte belastet mit ihrem grauenhaften Erbe von Millionen Toten die Rede von der Euthanasie. Das Wort selbst ist nicht schuld, denn die alten Griechen wollten damit lediglich einen guten Tod beschreiben, einen Tod, der eintritt, wenn es an der Zeit ist, im Gegensatz zu einem vorzeitigen Tod, der den Menschen aus dem Leben reißt. Im Gegensatz dazu kannten sie die Verkörperung des gewaltsamen Todes, die sie Ker nannten.

      Als einen guten Tod bezeichnete der im 5. Jahrhundert v. Chr. lebende griechische Dichter Kratinos ein Sterben ohne lange, schwere Krankheit in Abgrenzung zu einem lang verlaufenden Sterbeprozess. Aber selbst die Griechen waren sich nicht einig in der Frage, was ein guter Tod ist. Ist ein hohes Alter erstrebenswert oder ein junges Sterben, wie es in dem geflügelten Wort heißt: „Wen die Götter lieben, der stirbt jung.“ Es war unter den griechischen und römischen Philosophen durchaus umstritten, ob man den natürlichen Tod abwarten soll oder ob es besser sei, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. Eine Entscheidung darüber war letztlich davon abhängig, ob und welchen Wert man dem Leben an sich beimaß. In der pessimistischen Lebensauffassung des griechischen Denkers Hegesias besaß das Leben keinen Sinn an sich, weshalb er es für sinnvoll und geboten hielt, diesem selbst ein Ende zu setzen. Bereits in der Antike nannten sie ihn den Selbstmordprediger.

      Somit ist die Frage nach dem guten Tod letztlich davon abhängig, welchen Sinn und Wert man dem Leben beimisst, und darauf versuchen die Religionen eine Antwort zu geben. Ohne dass dies ausdiskutiert wäre, darf man sagen, dass die Frage nach dem Tod einen wesentlichen Urgrund für alle Religionen bildet. Zumal die monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam brachten Gott ins Spiel, dem als Schöpfer alles Leben zu verdanken ist, wovon sich zugleich sein einmaliger Wert ableitet, der das Verbot einschließt, in diesen Lebensplan Gottes einzugreifen. Daraus entstand das Verbot zu töten – andere und sich selbst. Daraus lässt sich sogar eine Pflicht zum Leben ableiten, und der Islam geht davon aus, dass Gott für jede Krankheit auch ein Heilmittel bereithält. Die Entwicklung in den Religionen brachte es schließlich mit sich, dass die Verheißung von einem ewigen Leben an ein gutes Leben und einen guten Tod geknüpft wurde.

      Lag vom Altertum bis zur Frühen Neuzeit die Beurteilung dessen, was ein guter Tod ist, in der Hand von Philosophen und Theologen, so stellt sich die Frage nach den handelnden Personen in einer materialistischen und zunehmend säkularen Gesellschaft, in der die Meinungsvielfalt und ein Pluralismus der Weltanschauungen zu den Grundfesten unserer Gesellschaftsordnung geworden sind, ganz neu. Welchen Stimmen verleihen wir Gehör, und erst recht, woraus schöpft der Gesetzgeber seine Kriterien? Wurden das Grundgesetz und die darin zementierte Würde des Menschen noch im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen formuliert, wie es in seiner Präambel heißt, so verzichtete man in der „Verfassung“ der Europäischen Union, dem sog. Lissabon-Vertrag, auf den Gottesbezug und verwies nur noch allgemein auf das kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas.

      Die Würde des Menschen speist sich heute nicht zuletzt aus seiner Autonomie, die ihm nahezu unbeschränkte Freiheit im Tun einräumt, solange das Lebensrecht und die Würde des anderen dadurch nicht beeinträchtigt werden. Der Mensch wird damit regelrecht dazu verurteilt, der Schmied seines Glücks zu sein oder eben der Herr über sein Leben – und über seinen Tod. Schon einmal siegte die Autonomie des Individuums über das vom Gesetzgeber zu garantierende Lebensrecht, als nach heftigen Diskussionen der Schwangerschaftsabbruch unter bestimmten Voraussetzungen für straffrei erklärt wurde (§ 218 a StGB). Nun wackelt der nächste Paragraf aus dem 16. Abschnitt des Strafgesetzbuches, in dem „Straftaten gegen das Leben“ (§§ 211–222) sanktioniert sind. 2013 scheiterte ein Entwurf der schwarz-gelben Koalition zur Neufassung des § 216 StGB, in dem die Tötung auf Verlangen geregelt ist; den einen ging er zu weit, den anderen nicht weit genug. Und 2014 wurden die Debatten fortgesetzt, nun unter schwarz-rotem Vorzeichen. Am weitestgehenden ist der Gesetzentwurf, wie ihn sich die Delegiertenkonferenz der Humanistischen Union wünscht: die völlige Legalisierung der aktiven Sterbehilfe. Ein Missbrauch dieser Regelung sei schon deshalb ausgeschlossen, weil sie auf das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten verweist, also auf seine Autonomie.

      Beinhaltet die Autonomie auch die Verantwortung des Menschen, so kann daraus schließlich auch die Pflicht zu sterben erwachsen. Gründe dafür gäbe es genug. Etwa die Verantwortung, den Angehörigen, den Pflegenden oder der Solidargemeinschaft nicht zur Last zu fallen. Die negative Beantwortung der Frage nach ihrer Verwendbarkeit hätte ja beinahe auch den Bremer Stadtmusikanten den Garaus beschert. Auch nach den Euthanasieverbrechen der Nationalsozialisten im Dritten Reich fehlte es nicht an Argumenten, Menschen das Lebensrecht zu bestreiten, die alle auf der Beurteilung fußten, was denn lebenswert oder überhaupt Leben sei. Und wo ein lebenswertes Leben nicht diagnostiziert werden kann oder gar das Leben als unerträglich angesehen wird, wäre das rechtzeitige Ableben ein guter Tod.

      Als ich im Februar 2014 mit dem Schreiben dieses Buches begann, hatte das belgische Parlament am 13. Februar dem Gesetz zugestimmt, dem zufolge es auch Minderjährigen ohne Altersbeschränkung erlaubt sei, nach aktiver Sterbehilfe zu verlangen – wohl unter strengen Voraussetzungen, aber damit war ein weiterer Schritt getan, um auf dem Weg zur Selbstbestimmung voranzuschreiten. Wie rasch andere europäische Länder ihre Gesetze verändern oder gar der europäische Gerichtshof aufgrund von Klagen eigene Vorgaben macht, muss abgewartet werden, aber die Tendenz ist offenkundig. Wir steuern auf eine Zeit zu, in der das, was ein guter Tod ist, anders formuliert sein wird als gestern oder heute. Aus unserer kulturgeschichtlichen Annäherung an das Thema werden sich kaum Kriterien für den guten Tod der Zukunft ableiten lassen, vielmehr wird sie zeigen, dass das, was man dafür hält, abhängig ist von einem wie auch immer definierten Wertesystem. Hatten die Gesellschaften bisher das Glück, dieses aus einer zumindest weitgehend einheitlichen Weltanschauung zu entwickeln, so haben wir dieses Privileg in einer pluralistischen Gedankenwelt verloren. Die Gedanken sind frei.

      Allerdings wird aus historischer Perspektive auch deutlich, dass der Kanon der Werte im Laufe der Geschichte nicht nur Änderungen erfuhr, sondern Grauen erregenden Irrungen unterworfen sein konnte. Selbst die einzigartige Einsicht von der Einmaligkeit und Unverfügbarkeit des Lebens, die in Gesetzestafeln gemeißelt lautet: Du sollst nicht töten, hat nicht verhindert, dass sich die Eliten immer wieder das Recht anmaßten, Ausnahmen davon zu formulieren. Allein die Geschichte der Todesstrafe belegt dies eindrücklich. Übeltäter, Ungläubige, Ketzer oder andere missliebige Menschen hatten schnell ihr Recht auf Leben verwirkt. Kriege verführten zu dem Gedanken, den Tod des Feindes wie den eigenen für einen guten Tod zu halten. Oder es dienten allein die Unterscheidungen in Herr und Knecht dazu, dem einen das Recht über das Leben des anderen einzuräumen. Religionen, Philosophien und Weltanschauungen lieferten dazu den gedanklichen Überbau. Und dies wird heute und morgen nicht anders sein. Immer wieder werden Begründungen dafür gefunden, warum der Tod dem Leben vorzuziehen ist – ganz im Gegensatz zur Weisheit der Bremer Stadtmusikanten.

      Das Bewusstsein des Menschen ist an allem schuld, zumindest wenn es um die Sinnsuche geht, die in der Frage nach dem Sinn des Todes gipfelt.