Dieser ganze Quatsch fällt einem ein, wenn man nicht einschlafen kann, und Matter, der mir völlig egal sein kann, geht mir auch durch den Kopf, statt das wegzuschieben.
Wichtig ist, dass der Vorkurs übernommen wird, hatte Friedhelm gesagt. Denkt ihr, dass sich noch was ändert?
Der Siebzehnte hatte sie unvorbereitet getroffen. Sie vertrauten einander noch weniger. Höchstens, die sich küssen, feixte Friedhelm. Gernitz gibt die Linie vor. Wer steckt hinter Pockrandt? Die in der SED sind, wissen, wenn was brenzlich wird. Beim Hitlerattentat war das so, ich Pimpf. Wie ich dich kenne, wirst du ihnen nicht auf den Leim gehen. Attentat wirds keins mehr geben. Wie auch?
Seit Juni hatten sie den Fachschülerausweis bei sich zu haben. Besucher waren an- und abzumelden. Wer zu spät kam, hatte den bewachten Eingang zur Rathenaustraße zu benutzen. Mit der Zeitungsschau begann der Unterricht. Die Leitung arbeitete eine neue Schulordnung aus.
Die Fähigkeit zur Selbstkritik muss man erwerben, erklärte Rudi. Die Woche hatte begonnen. Damit Frieden ist, hängt ihr eine Selbstkritik ans Brett, riet Friedhelm, und Matter hat seinen Willen. Schon eingeleitet. Wer schreibt? Ich. Dann formulierst du. So war Regina. »Der Begriff Gurken, den Kollege Matter gebraucht, bezieht sich zur näheren Erklärung für die Leser unserer Wandzeitung nur auf einen Teil einer ungenießbaren Gurke, wir bitten Freund Matter in Zukunft keine solchen Übertreibungen zu gebrauchen.« Matter spinnt, setzte sie nach.
Du Ferkelchen! Mir geht der Matter so auf die Nerven, sagte Irina.
»Durch die Anschuldigungen wird ein schlechtes Licht auf unsere Klasse und vor allem auf uns geworfen, Als ob wir jede Pause mit Gurken schießen.« Muss rein. »Abschließend möchten wir nochmals betonen, daß wir unsre Fehler einsehen, diese nicht wieder begehen werden, und bitten die durch unser undiszipliniertes Verhalten Betroffenen um Entschuldigung.«
Eigentlich erkenne ich keinen Fehler, sagte Regina und unterschrieb.
Denkst du, ich?
Liest sowieso nur der dämliche Harry. Sie hatte erdfarbene Augen, wirklich, und Sommersprossen.
Harry hatte der Klasse Disziplinlosigkeit vorgeworfen. Diskussion wolle er keine neue entfachen, was sie nicht als Schwäche verstehen sollten. Gewiss gäbe es noch mehr Freunde, die nicht ganz unbefleckt wären, nicht immer richtig handeln. Er bemerkte nicht, dass er sich wiederholte. Unsre Klasse sei vital, bringe Elan auf, was kein Jugendfreund bestreiten werde. Das trage die Frucht des Gemeinschaftsgeistes, was beweise, dass Ausgelassenheit und Fröhlichkeit durchaus positiv gewertet werden können.
Irina sagte, wenn ich Harry wäre, würde ich, was sie über uns sagen, als Kritik lesen. Am Nachmittag war’s, als sie drüber redeten, Friedhelm am Flügel, Zigarette im Mundwinkel, raste die Zwölfte Straße runter, ließ sich austrudeln. Was Harry will, Hannes, ist mir nicht ganz klar.
Böckler kam an, Skatkarten in der Hand. Friedhelm band ihn fest mit Ka-linka, ka-linka, ka-li-ni-ka moja. Das hatten sie im Ohr, die Soldaten, die Russen. Wolfgang strahlte, weil sie das in Meckelnburg auch liebten. Sie warteten auf ihn in der Veranda. An der Wand die oberste Pionierleiterin. Pockrandt behauptete, sein Vater würde sie gut kennen.
An diesem Nachmittag kam die Rede auf einen Artikel im »Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel«, den niemand gelesen hatte und der, wie sich herausstellte, im Lesesaal der Deutschen Bücherei unauffindbar war, das Schulexemplar auch. Ich komme nicht ran, bedauerte Evelyne Fehrmann, die immer das Neueste hatte. Die nehmens mit in den Urlaub, vermutete sie.
Man muss den Artikel erst mal haben. Staat und Partei hätten sich von den Massen entfernt, stand drin, mit dem 17. Juli sind die Fehler nicht automatisch abgestorben. Auch, dass Missstände von kritiklosen Jasagern verschwiegen werden, behauptete Irina.
Der aus der Abiturklasse mit Hannes Fußball spielt, hat den Artikel bekommen, von dem, der Jungen, die übrig blieben geschrieben hat. Arbeiter haben sich gegen Missstände gewehrt, gegen die Normen. Das Negative wird in den Zeitungen verschwiegen, Positives aufgebauscht. Wer nicht einverstanden ist, wird an die Wand gedrückt. Nicht jeder ist ein Agent. Wir müssen zuhören, lauschen, was die Massen sagen, das Wort kommt vor.
Die Namengebung für Loest war untergegangen. Brigitta war vielleicht froh, dass das Börsenblatt fehlte.
Der Artikel wäre von Anfang Juli, sagte Pockrandt später.
Am 13. Juli begann die Eignungsprüfung. Alle bestanden. Am 28. Juli war Zeugnisausgabe. Friedhelm ließ die Hand auf Böcklers gesunde Schulter fallen. »Denn man tau.« Dass der Schulleiter jedes Zeugnis zweimal unterschrieben hatte, fiel ihm als erstem auf, mit Rotstift als Schulleiter und ohne Rotstift als Vorsitzender der Prüfungskommission. Der Generalissimus trägt Weiß.
Es war heiß, als sich Friedhelm mit dem rosa Doppelblatt Kühlung zuwedelte. »... doch die Schule ist nur eine Vorstufe, die wirkliche Schule der Kader erfolgt in der lebendigen Arbeit außerhalb der Schule bei der Überwindung von Schwierigkeiten.«
Sie waren Fachschüler, und einen Tag später fingen die Ferien an.
Kannst dich besaufen, Walter.
Mach ich. Ich stelle mich vor Steudel hin, erstatte Meldung.
Walter hielt Steudel für einen Spieß. Soll Klempner gewesen sein. Rudi qualmte. Stimmt, sagte er.
Weiß das auch die Partei, fragte Friedhelm. Wie kommst du drauf, dass er Spieß war?
Weil ich Soldat war.
Und woher willst du das wissen, Walter?
Ich wars vielleicht auch. Wie der sich auf dem Absatz rumdrehte, wie Steudel, als er die Zeugnisse austeilte. Bei der Gelegenheit hab ich den Steudel erkannt, akkurat. Ich war letztes Aufgebot.
War das noch im Krieg, Walter? – Wie’s zum Schluss war, den Vergleich musst du mir überlassen, Rudi, du warst in Italien, wir in einem Waldstück im Mansfeldischen. Der Spieß ließ uns stehen. Kümmert euch, war sein letztes Wort.
Ich wollts von Rudi hören, sagte Friedhelm zu Hannes, der zugehört hatte. Bist ein Jahr älter und hast plötzlich ein anderes Schicksal.
Klaus Pockrandt, das rosa Zwischenzeugnis in der Hand, kam ins Kabuff. »Es gibt keine Landstraße für die Wissenschaft, und nur diejenigen haben Aussicht, ihre hellen Gipfel zu erreichen, die der Ermüdung beim Erklettern ihrer steilen Pfade nicht scheuen. Marx.« Steht drunter. Böckler lief an, weil er nicht erkannte, dass Pockrandt Marx zitierte.
Ihr redet von Wissenschaft, vielleicht treffen wir uns als Ferienhelfer wieder. Dich meine ich nicht, Rudi, sagte Irina mit ihrer typisch Dresdner Schnappe, bist bei der Partei bestimmt gut aufgehoben, und um dich, Friedhelm, bei den kleinen Mädels, mache ich mir auch keine Sorgen. Da lachten sie. Untersteh dich, du Lustmolch, rief sie und entschwebte.
Glücklicher, fährst an die See. Johannes war in Prerow in eine Kinderbibliothek eingewiesen. See ist schön. Er erinnerte sich, dass Ruths Vater auf einem Schnellboot gefahren war. Die Jansens waren Norddeutsche, die es in die Oberlausitz verschlagen hatte, er als Arzt. Meine Großeltern waren da, wo sie immer schon waren, viele sind als Soldaten bloß irgend wohin gestiefelt. Theodor Patzig war bis an den Rhein gekommen, auf Wanderschaft. Vaters Großvater war beim Militär in Dresden, zuletzt Stellvertreter. Die Einzelheiten bring ich nicht zusammen. Die Aufständischen beim Maiaufstand hatten ihm die Mütze heruntergeschossen.
Die Ostsee ist was andres, für mich ist Riga die Ostsee, hatte Vater gesagt, wo wir gebadet haben, ohne alles. Werdet ihr vielleicht nie sehn, Riga, der Krieg hat uns das verdorben. Denke ich an Riga zurück, sehe ich diese Dünenlandschaft, die Küste, höre die Stille, die es in diesem fürchterlichen Krieg auch gab, als Leningrad eingeschlossen war. Wenn Vater erzählte, hatte der Himmel plötzlich Farbe, die es in seinen Briefen nicht gab, wo kein Platz zu sein schien für die See, die Himmelsfarben, die Wolkenberge. Riga, unvergesslich, alles weg, dahin, verloren in dem unseligen Krieg.
Ich bin neugierig, wie die See aussieht, dachte Johannes, als er Irina zur Straßenbahn rennen sah.
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