Zerknautscht kam er früh an. Natürlich bemerkten die Mädchen das. Er wehrte sich. Dein Seidentuch, Irina! Wo denn? Da war was am Hals, den sie kunstvoll umschlungen hatte. Am liebsten hätte sie die Zunge gezeigt. Die Woche über gehört Walter ihr. War deiner, Walter? Was? Der Fleck? Verschämt hat er gelacht, als Friedhelm das sagte. Die machen es ganz heimlich, behauptete er.
Die Sorte Männer mag ich nicht, sagte Regina über ihn. Manches übersah sie. Ausgetretene Halbschuhe hatten alle, Friedhelm schiefe Absätze. Dem Unterricht folgte er mühelos. Vater Offizier, gefallen, Mutter jetzt Arbeiterin, seit dem Krieg geschieden.
Die Oberschule hatte Friedhelm abgebrochen. Über Gründe redete er nicht. In einer Stadtbücherei hinter Torgau auf der anderen Seite der Elbe, in dieser Kieferngegend dort, hatten ihn die Kollegen zum Vorbereitungslehrgang delegiert. Bei mir kams vermutlich auf die Mutter an, sagte er. Bist vielleicht auch so ein Arbeiterkind, Hannes? – Mein Vater ist Angestellter. Aus dem Steuerbeamten war in der Genossenschaft des Bäcker-, Müller- und Konditorenhandwerks inzwischen ein Buchhalter geworden.
Waren die meisten in der Werktätigenklasse unecht? Katzengold? Wie Siegfried, Siggi? Der Unternehmersohn schleppte die Büchertasche als Arbeiterkind zur Oberschule. Böckler ist Arbeiterkind. Wenigstens der muss Arbeiterkind sein, dachte Friedhelm.
Mittagspause. Wolfgang hüpfte die Treppenstufen zur Terrasse herunter. Im Sonnenschein die Unternehmervilla, die das nicht mehr war. Wat seggt denn min Meckelnbörger? meinte Friedhelm. Der dritte Mann fehlte. Klimperst? Wenn du borgst? Pimperst, reimte Friedhelm. Wolfgang strahlte. Denn man tau.
Den Rasen schnitt der Hausmeister, der erzählt hatte, wie das war mit den Käppis und den Mützen, als die Russen ankamen. Die Offiziere hatten runde Mützen auf und dem Hausmeister Papyrossi angeboten.
Wenn Wolfgang auf der Siegerstraße marschierte, war das zu hören. Immer. Denn helpt dat nich und zog ihnen die Hosen runter, spielte sie blank. Beim Mitschreiben verließ er sich auf Johannes.
Das Sortieren im Kopf war das Schwierige, im Unterricht die Hauptpunkte erfassen, Mitdenken, Leerlauf unbeachtet lassen, über Phrasen drüberspringen, entwässern, kondensieren, Übertreibungen ausscheiden, den Superlativ streichen, nicht im Redebrei versinken, die Phrasen aber auch nicht ganz vergessen. Man musste sie parat haben, wenn sie gebraucht wurden. Friedhelm sprach vom Aufschwemmen, Aufblasen.
Frau Dr. Darge vermied das. Sie fing den Unterricht mit einer These an, womit sie die Richtung angab, oder stellte eine Frage. Deutsche Literatur und Weltliteratur gabs, viel Goethezeit, etwas davor, die Zeit danach und die jüngste Zeit. Johannes hatte Arnold Zweigs Junge Frau von 1914 regelrecht verschlungen, Erziehung vor Verdun, Döblins Alexanderplatz. Was solche Schriftsteller zustande brachten, bewunderte er. Literatur kann das, Sprache, wenn sie eindringt. Es muss weh tun, sagte Friedhelm.
Was die Struktur war, was Frau Dr. Darge als das Skelett bezeichnete, erklärte sie. Ging die Stunde zu Ende, fasste sie zusammen. Sie warf dem Nachbewilligten hin und wieder einen winzigen Blick zu, als freue sie sich, aber vielleicht bildete er sich das nur ein.
Als die ersten Schultage angefangen hatten, schwirrte ihm noch der Kopf. Das legte sich. Fremdwörter schrieb er auf, schlug nach, büffelte Physik und Chemie, mehr als Grundlagenwissen wars nicht, was geboten wurde.
Bald reihte sich ein Schultag an den nächsten.
4
Früh am Lindenauer Markt an der Haltestelle klebten Maueranschläge. Der Atem der Geschichte wehte ihn an
Unbegreiflicherweise verpasste er diesen Junitag. Brot? Er konnte das Gesicht der Bäckersfrau in der Bäckerei Ecke Lützner Straße nicht deuten, der Laden leer. Bei Wolframs ein Zettel. Sind im Garten. Er hatte im Schwejk gelesen. Du lachst dich krank, Hannes, den gib mir schnell zurück, am besten morgen, sagte Eichler.
Auf der Georg-Schwarz-Straße Lastwagen, er hatte gewartet, bis sie vorbei waren. Und du willst nichts bemerkt haben!? Das war am Tag danach. Nichts gesehn haben, geht nicht.
Vielleicht Fahnen, aber wer guckt auf Fahnen?
Am Lindenauer Markt früh an der Haltestelle klebten Maueranschläge. Der Atem der Geschichte wehte ihn an, deutsch, russisch. Du willst vom Ausnahmezustand nichts gemerkt haben?! Du lügst! Ist Fahnenflucht, was du dir geleistet hast, war Pockrandt auf ihn zugestürzt. Dir da geleistet hast, nuschelte Böckler.
Wir liegen in Alarmbereitschaft, selbst die Mädchen, sagte Rudi Gernitz eher vorwurfsvoll, und du zeigst dich nicht.
Auf dem Fensterbrett Gewehre. Wir haben ein Recht drauf, dass wir wissen, wo du warst.
Bei mir.
Die Hand vorm Mund, Gertraude.
Bei Wolframs.
Du lügst?
Ich hab gelesen. Den Schwejk.
Erzähl uns das nicht!
Fahrt hin. Liegt dort. Walter bot sich an.
Es kam nicht dazu. Die Schärfe war raus.
Jetzt fragte Johannes. Was soll ich nicht mitgekriegt haben?
Na das, den Angriff auf unsere Grundlagen.
Wenn die politisch werden, friere ich, sagte Irina, als das überstanden war. Trotzdem, ich hatte den Eindruck, sie waren froh, als du reinkamst.
Irgendwas, Hannes, musst du doch mitgekriegt haben.
Lastwagen, Leute, vielleicht Fahnen.
Tarnung, sagte Rudi.
Ich weiß nicht, ob Fahnen waren.
Aber etwas musst du doch mitgekriegt haben?
Als Soldat war Rudi Gernitz bei den Panzern gewesen. Redete, die Zigarette zwischen den Fingern, die nicht ausging. In so einem Panzer hatte er gesessen und für einen Moment die Hände auf die Ohren gepresst. Freunde, sie oder du, im Krieg hast du keine Wahl! Das stand bei Curzio Malaparte. Ich hab plattgewalzte Menschen gesehn, das nämlich meint Die Haut, der Roman.
Beim nächsten Mal, Hannes, bist du, zack, zack, bei der Truppe.
Das es nicht geben wird! das nächste Mal! sagte Pockrandt, Parteiabzeichen am Blauhemd, an der Brusttasche. Er sah uns aus zusammenstehenden Augen an, uns alle, die wir zwischen diesen schiefen Wänden im Dachgeschoss standen. Hast allen Grund, klassenbewusst aufzutreten! Die Drohung blieb ihm im Ohr, die konnte er nicht vergessen.
Klaus Pockrandt hatte Dantons Tod gelesen, ihm das Reclam-Heft in die Hand gedrückt, die Stelle angestrichen, blau, dick, und vorgelesen, vor der Gruppe. Robespierre: »Die soziale Revolution ist noch nicht fertig; wer eine Revolution zur Hälfte vollendet, gräbt sich selbst sein Grab. Die gute Gesellschaft ist noch nicht tot, die gesunde Volkskraft muß sich an die Stelle dieser nach allen Richtungen abgekitzelten Klasse setzen. Das Laster muß bestraft werden, die Tugend muß durch den Schrecken herrschen.«
Die Tugend muss durch den Schrecken herrschen. Wenns stimmt, hat die Tugend die Panzer geschickt, sagte Friedhelm.
Wem kann ich trauen? Niemand. Die Frage war beantwortet. Wir verwandeln uns, sie hatten sich auf die Gefahr eingestellt.
Dass du nichts mitgekriegt hast, sagte Pockrandt, das konnte er nicht vergessen. Es war so. War es so oder anders? Pockrandt kam nicht drüber weg. Immer waren beide Seiten betroffen.
Der Regen hatte die Plakate vom Ausnahmezustand Tage später nicht abgeweicht, sie wurden abgekratzt, die am Lindenauer Markt, anderswo, überall. Gertraudes Eltern berichteten aus Görlitz, dass Arbeiter die Bonzen zur Besichtigung in einen Hundezwinger gesperrt hätten. Uta Schäfer hatte Parteiabzeichen auf der Straße liegen sehn, weggeschmissene. In Großenhain auch, sagte Klaus Grimm. In Jena haben sie Straßenbahnen zusammengeschoben und einem