Leipzig. Hartmut Zwahr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hartmut Zwahr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783867295680
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im Blick. Du sagst dazu nichts, redeten ihre Mandelaugen. Sie nahm ein Spiegelchen zur Hand, als müsse sie feststellen, ob sie noch da war.

      Wir müssen Lehren ziehen, das Volk, Zschiedert stockte, als würde eine Waage für Sagbares vor ihm stehen. Die Regierung aber auch. Er kritisierte das Banausentum in der Literatur.

      Ich geh mal aufmachen. Irina ging zum Fenster, vorbei an Walter, der sich mit einem Löschblatt Luft zufächelte.

      Schreckensherrschaft der Sonne, wie Jorge Amado sie beschreibt, sagte Harry Matter, der Amado bewunderte. Immer diskutieren dieselben, vieles muss geändert und verbessert werden.

      Das nehme ich auf, sagte Pockrandt. Fehler haben das Vertrauen der Werktätigen erschüttert. Daran ist unsere Organisation mit Schuld. Noch mehr Schuld trägt die FDJ daran, dass sich viele Jugendliche am 17. Juni von den Provokateuren zu unüberlegten Aktionen und Demonstrationen haben verleiten lassen. An der Schule haben wir das verhindert.

      Willst du damit sagen, wir wären fähig gewesen, uns hinreißen zu lassen? Das verbitte ich mir.

      Mit Aufstehen hatte Gernitz angefangen. Irina blieb sitzen, als sie das sagte.

      Pockrandt ist gefährlich, meinte sie hinterher, der schreibt mit, wenn er sagt, ich formuliere das gleich mal, und einen festnagelt.

      Pockrandt dankte den Sowjetsoldaten, den Volkspolizisten, den Kameraden der KVP, der Kasernierten Volkspolizei, die den »Tag X« verhinderten, der die Deutsche Demokratische Republik zum Tummelplatz von asozialen Elementen und Faschisten gemacht hätte.

      Willi Zschiedert, den Kopf gesenkt, ließ den Erguss über sich ergehen.

      Gernitz meldete sich.

      Sie, bitte.

      Warst du eher, Walter?

      Gernitz redete parteigemäß, bis er aufhörte. Walter Döring sagte, er hätte sich gar nicht gemeldet. Im Kabuff hatte er zu Friedhelm mal gesagt, wenn einer in der Klasse ein Prolet ist, bin ichs. In der Werktätigenklasse zu sein, fand er, wäre eher keine Empfehlung.

      Harry Matter meinte, am 17. Juni habe sich in einer entscheidenden Stunde eine Stimmung geäußert, wenn auch nicht als Unterstützung der Provokateure, aber als bedenkliche Lethargie, weil Kritik und Selbstkritik, dieses unverzichtbare Prinzip, nicht mal in Ansätzen sichtbar geworden wären, in unserer Klasse auch nicht. Harry nahm die Brille ab, wenn er aufgeregt war: Die Regierung habe jetzt den Anfang gemacht, was nur ein Anfang sein könne.

      Es klingelte Pause. Pockrandt hielt sich nicht dran. Die Niederschlagung am Siebzehnten hat den Dritten Weltkrieg verhindert, sagte er jetzt. Unsere Jugendorganisation, die voller Vertrauen die Politik der Partei und der Regierung unterstütze, müsse grundlegend ihre Arbeitsweise ändern, auch unsere Gruppenleitung.

      Pause! Gilt auch für dich, Klaus!

      Grundlage dafür soll die Aussprache – Gertraude stand auf, blieb stehn – über den Bericht der Leitung zum Umtausch der Verbandsdokumente sein, auf der wir unter Anwendung von Kritik und Selbstkritik zu allen Erfolgen und Fehlern offen Stellung nehmen werden.

      Zschiedert hatte die Tasche schon in der Hand, als er sagte: Es war ein Fehler, dass wir mit der Regierung nicht längst offen und rückhaltlos gesprochen haben. Was er über die Bonzen, das kunstfeindliche Banausentum, die bürokratischen Kunst- und Literaturdiktatoren gesagt hat, meinte Friedhelm nach dem Mittagessen, traut sich nicht jeder.

      Wie sich herausstellte, hatte Pockrandt das Mitgliedsbuch der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft eingebüßt, verloren und zeigte den Verlust bei Böckler an, der DSF-Vertrauensmann war. Weggeschmissen wird ers haben, behauptete Gerlinde Otto, die sonst nie redete, als sie für sich waren.

      Brigitta als FDJ-Sekretär beantragte Ersatz.

      5

      Ich traue niemand, dich ausgenommen, aber auch nicht unbedingt. Gershwin traue ich, meiner Erfahrung

      »Wir waren in großer Sorge, weil keine Post kam, nun sind wir beruhigt. Hier ist alles ruhig, auch in Pirna, wo ich am Sonntag mit Lene, die mich fein bewirtet hat, einen schönen Schiffsausflug machte«, schrieb Mutter, »und vergiss Vaters Geburtstag nicht.«

      »Nicht Worte – Taten entscheiden«, blieb an der Wandzeitung hängen. Die Niederschlagung hat den III. Weltkrieg verhindert, glaubst du das? Pockrandt genießt, wenn jemand seine Artikel liest, meinte Johannes, und Böckler stellte sich an die Wandzeitung. Na, ihr, lachte Irina, steht alles in der Zeitung, mein Wirt sagt, man muss die Zeitung richtig lesen. Wolfgang liest bestimmt, stichelte sie.

      Wat meinst?

      Ob du Zeitung liest? Hannes zeigte mit dem Finger drauf. Ob du Pockrandt gelesen hast? »Wir müssen in Zukunft unsere Beziehungen zueinander kameradschaftlicher gestalten. Leitsatz in unserer Arbeit soll hierbei der Satz sein: Nicht Worte – Taten entscheiden! K. Pockrandt.« Schwungvoll hat er durchgezogen, das P, sagte Irina.

      Margot Röbke stellte sich vor Pockrandts Aufruf hin. Zu lang, was du da aufgesetzt hast. Brigitta ging nachprüfen.

      Denkst du, dass wir übernommen werden? Davon gehe ich aus, Margot. Bei dir wäre ich mir nicht so sicher, sagte sie, als Klaus sich einmischte. Der lachte. Brigitta war Gruppensekretär, er ihr Stellvertreter.

      Deine Überzeugung möchte ich haben, Klaus, dass wir übernommen werden, weil wir Arbeiterkinder sind. Bei der Disziplinlosigkeit vielleicht die Hälfte. Meinst du mich, Harry? Ohne Brille wirkte Harry Matter richtig hilflos. Dich auch, Klaus. Mich ärgert, dass ihr, Rudi, du, regelmäßig zu spät kommt.

      Die Stunde fing an. Rolf Recknagel behandelte Jack London. Wir reden in der Pause, sagte Friedhelm.

      Die meisten halten Abstand, meinte Regina in der Pause. Ich sehe, wie Pockrandt um Brigitta rumschwirrt. Denkst du, der glaubt dran, was er redet?

      Bin ich der liebe Gott, Regina? Ich traue niemand – und Johannes ansehend –, dich ausgenommen, aber auch nicht unbedingt. Gershwin traue ich, meiner Erfahrung.

      Wenn du genauer hinguckst, was Irina sagt, stimmt. Es hat sich was verändert seit Juni, die ganze Schule, überall. Ich sehs an Wolframs. Was ist mein Mann erschrocken, sagte Frau Wolfram, der war auf dem Bahnhof. Da hat das Erschrecken angefangen.

      Die Verbandsdokumente waren umgetauscht. Das war Beschluss. Die halbe Klasse bestand aus Leitungsmitgliedern, hatte Posten, Funktionen, bloß Irina nicht.

      Das Antilopenhafte an ihr sind die Augen, behauptet Friedhelm.

      Klaus Grimm hatte den Sport unter sich. Walter Döring redete über Fußball, Rudi auch. Gernitz war mit seinem Rauchen schwer zu ertragen, genauso wenig, wenn er politisch wurde. Seine Stärke war Erzählen. Stehe ich doch gestern am Potsdamer Platz, mir gegenüber ein Heimkehrer. Sie redeten. Krieg, nie wieder! Die Bahn rollte durch Trümmer. Überall ist was Buntes angeklebt. Im Leben geht’s immer weiter, wenn du am Leben bleibst. Auferstanden aus Ruinen. Das Lied war gemeint. Sie bedienten sich von seiner Packung.

      Döring dachte vielleicht an den Heimkehrer, denn er fing zu erzählen an. Als es aus war, war ich im Seekreis, im Mansfeldischen, da gings nach dem Zusammenbruch bloß ums Essen, ums Überleben, Wäsche. Die Flüchtlinge konnten sich nicht mal die Hände abtrocknen. Den Umsiedlerzug seh ich vor mir, die hatten nichts. Da sind die Genossen zu den Russen hin und mit die (er meinte die Genossen) zu den Nazis, den ehemaligen. Gebt für die Schuld, die Ihr habt, wenigstens Wäsche her, was klappte. Die Dolmetscherin kriegte von den Russen zur Belohnung ein Schneiderkleid, ein richtiges Kostüm war das.

      Russen? Das Wort missfiel Pockrandt. Für mich sinds Russen, darauf bestand Döring, sagen doch alle. Hast du was andres gehört, als sie eingerückt sind mit ihre Panzer? Die Dolmetscherin zog sich gleich aus. Die hab ich in Schlüpfern gesehn, die erste Frau, die ich in Schlüppern gesehn hab, damals zur Anprobe, außer Mutter. Das Kostüm musste auf die Kommandantur hingebracht werden. Walter erwähnte ein russisches Ehrenmal.

      Sowjetisches, kartete Pockrandt nach, was Walter ignorierte.

      Die Schneiderin war meine Oma. Dirwegen