Sie beschlossen für die FDJ-Jahreshauptversammlung Ende Oktober eine Arbeitsentschließung. Von dir, Klaus, hätte ich ein Zeichen erwartet, wenigstens den guten Willen. Pockrandt bewegte die Lippen.
Inka rief: Fürchtest du dich, wieder mal eine Verpflichtung einzugehen, die du nicht einhalten wirst? Der soll uns nicht wieder auf dem Kopf rumtanzen, meinte Irina auf dem Weg zur Straßenbahn.
Johannes scheute die Auseinandersetzung mit der Partei. Lass dir nichts bieten von ihnen, sagte sie. Seine Stube war ausgekühlt, als er ankam, denn Wolframs feuerten nur die Küche. Ob Walter krank machen würde oder die Stellungnahme mitbrachte? Wie wäre es, wenn er Waltraud bei den bevorstehenden FDJ-Wahlen zum Gruppensekretär vorschlug? In manchem glich sie Harry, bloß baute sie keine Luftschlösser.
Walter erschien ohne Stellungnahme. Morgen, wenn ich nicht wieder diese Kopfschmerzen bekomme. Alles lachte. Dann hing Walters Antwort doch an der Wandzeitung: »Ob mich alles ungerührt läßt und ich mich um gar nichts kümmere, kannst Du, liebe Waltraud, am allerwenigsten beurteilen. Wenn Du versuchst, es mit der Gruppenversammlung zu beweisen, so könnte ich ja von dir das Gleiche behaupten, denn Du als Klassenfunktionärin hieltest es ja auch nicht für nötig, trotz Einladung der Parteileitung, an der öffentlichen Parteiversammlung teilzunehmen, in der wichtige Fragen der FDJ-Arbeit zur Debatte standen. Von mir wußtest Du, dass ich zur Zeit in ärztlicher Behandlung stehe. Außerdem war die Gruppenversammlung, wo der Auftrag verteilt wurde, auf Dienstag angesetzt, und der Termin ist wieder, wie üblich, verändert worden, so daß ich nicht teilnehmen konnte. Du hast mich angeblich unzählige Male an die Durchführung eines Aufbaueinsatzes erinnert. Jawohl, ich streite das nicht ab, aber auch ich habe unseren mit der zentralen Leitung beauftragten FDJ-Funktionär mehrmals um einen Aufbaueinsatz angehalten. Er ist für mich maßgebend und nicht Regine. Der in der ZSGL dazu betraute Funktionär kann sich auch nicht noch um Aufbaueinsätze kümmern, da er seine Zeit zur Vorbereitung der Zwischenprüfung braucht. Wörtliche Äußerung desselben zu mir. Leider muß ich also deine Anschuldigungen zurückweisen und dir raten, in Zukunft genaue Erkundigungen einzuziehen, eh Du über einen Freund herfällst. Ist das nicht auch Bummelei? Walter.«
In der Pause heftete Waltraud die Antwort an.
»Nur kurz will ich auf deinen Artikel eingehn. Erstens. Nicht aus Interessenlosigkeit oder Bummelei kam ich nicht zu eurer Parteiversammlung, sondern ich war verhindert, daran teilzunehmen. Zweitens. FDJ-Versammlungen sind nur sehr selten verschoben worden, und dann nur aus schulischen Gründen. Es kann also kein Grund sein, daß Du deine Verantwortung nicht wahrgenommen hast. Waltraud.«
Einer greift den anderen an, an der Wandzeitung, und das Kollektiv existiert. War es nicht so? Die Ausarbeitung war von Irina, behauptete Friedhelm. So schreibt Walter nicht, ich werde Waltraud auch ins Gespräch bringen. Hast die Scheiße ein Jahr gemacht, Hannes, soll ein andrer ran.
Inka schlug dann Waltraud vor, was viel Zustimmung fand.
Den Entwurf der Verpflichtungsentschließung zum Jugendgesetz hatte Evelyne ausgearbeitet. »Erstens. Wir wollen uns bemühen, unsere Studienarbeit und -disziplin zu verbessern. Zur Verbesserung der kollektiven Studienarbeit soll das wöchentliche gemeinsame Wiederholen des Französischstoffes beitragen. Zweitens. Jeder Schüler unserer Klasse soll sich bemühen, nicht zu spät zum Unterricht zu kommen. Jeder, der zu spät kommt, soll 0,20 DM in die Klassenkasse zahlen. Drittens. Um unsere Wandzeitung noch besser zu gestalten, verpflichten wir uns alle, an ihrer Ausgestaltung zu helfen. Viertens. Im Jahre 1955 wird unsere Klasse 400 Aufbaustunden ableisten.«
Hätte Harry uns nicht verlassen, er würde jetzt aufhören. Wie meinst du das?
Irina wusste genau, was er meinte. Was geschieht, passiert auf dem Papier. Darin besteht der Fortschritt, und steht er in der Zeitung, »beflügelt« er andere. Solche Selbstverpflichtungen gebe ich am laufenden Band ab, damit ich meine Ruhe habe.
Für mich ist es die erste.
Na dann prost, Hannes! Auf die nächsten!
Je weiter sie sich von jenem Juni entfernten, desto deutlicher wurde, dass sie sich nicht entfernen konnten, der Tag ging mit, womit sich Friedhelm wiederholte, aber vielleicht bildeten sie sich das auch nur ein. Die Gruppierungen blieben. Klaus hatte sie nicht erfunden. Es gab sie seit jenem Juni.
Der erste Schnee. Mutter wollte die Wäsche am liebsten gleich haben. Auf eine Weihnachtsgans kannst du dich freuen, schrieb Vater, eine aus der Heide vom Bäckermeister Rötzschke, Neudorf an der Spree, Bautzner Verwandtschaft, sonst hätten wir keine. Horst Adolph hat die Absicht, hat Mutter gehört, das Studium vielleicht aufzugeben, er könnte als Elektrotechniker beim Rundfunk anfangen, 550 Anfangsgehalt.
Im Auwald war die Schneedecke zu dünn. Die Eichenriesen standen schwarz in dem weiten Gelände, nichts hüllte sie ein.
Hat dir das Adventskränzel gefallen? Auf dem Tisch lag es. Neben dem Tisch das Sofa mit den wuchtigen Seitenlehnen, mit dem das Zimmer fast vollgestellt war. Mutter hatte die Milchkarte beigelegt. Die Milch musst du warm machen, brennt schnell an. Bei wem warm machen? In der Küche bei Wolframs? Lass dir die Äpfel schmecken. Der angehängte Zettel mahnte: »Vergiß deine Haare nicht zu pflegen«. Mitgeschickt hatte Mutter ein Nachthemd, zwei Taghemden, drei Paar Strümpfe, Taschentücher, ein Sporthemd, zwei Handtücher, »eins davon ist um den Kuchen gewickelt«.
Weihnachten ging vorüber. Die Räder der Straßenbahnen drehten durch dicken Schnee, bis der Verkehr stillstand. Man musste zur Arbeit laufen. Wer es weit hatte, blieb zu Hause. Schnee lag bis in die Frühjahrsmesse. Waltraud Arlt war FDJ-Sekretär, Evelyne Fehrmann Stellvertreter. Immer war was. Er wartete auf Nachricht von der Universität. Von der Bewerbung zum Studium wusste an der Schule niemand außer Zschiedert.
Bloß gut.
19
Die Schillerehrung im Schauspielhaus
Sie hatten sich verpflichtet, an der Schillerehrung im Schauspielhaus teilzunehmen. Die orangefarbene Sonne versank an einem sonst grauen Himmel. Den Auwald tränkte Frühjahrsnässe. Regina setzte sich zwischen Irina und Walter, neben ihm saß Hans Joachim. Das Haus füllte sich. Der Platz zwischen Johannes und Pockrandt war frei. Bei Vorträgen sitz ich gerne vorn, sagte Regine, Abiturklasse, die er vom Sportfest kannte und setzte sich. Sie hatte ein hochgeschlossnes Kleid mit kleinen Kragenecken.
Schwer zu sagen, ob es damit anfing.
In der ersten Reihe kam Beifall auf. Korffs Junge Gemeinde, murmelte Pockrandt. In der Körperhaltung nicht mehr ganz sicher, in Gamaschen, trat Professor Korff ans Rednerpult, und Zschiedert applaudierte. Der Beifall übersprang die vorderen Reihen.
Pockrandt hatte keine Hand gerührt. Das Mädchen, das Regine hieß, flüsterte: Ich sag dazu später was. Es kam nicht dazu. Ihr Freund wartete.
Johannes ließ sich von Frau Wolfram die Gamasche erklären. Zu Friedenszeiten trugen das feine Messegäste unter der Anzughose, der Überstrumpf war die Halbgamasche.
Über drei Punkte wolle Korff zum Schillerfrühling sprechen. Ist Schiller ein politischer Dichter gewesen? Zweitens. Welche Auffassung hatte er vom Wesen und von der Aufgabe der Kunst? Drittens. Zum ästhetischen Moment in Schillers Wirken.
Johannes schrieb was auf. Pockrandt schob die Lippen vor.
Ist Schiller ein politischer Dichter gewesen oder nicht? Für Korff war Schiller ein leidenschaftlich Vorwärtsstürmender, der den Weg zu den Sternen suche, getrieben vom Drang nach Höhe und Größe. In Kampf und Widerstreit sind die gewaltigen Jugendwerke entstanden, und die waren Ausbruch eines großen Geistes. Schiller gestalte den großen Menschen auf dem Kolossalgemälde der Zeit, die ihm zur Darstellung die Mittel gäbe. Seine Entwicklung verlief stürmisch vorwärts – experimentell, nach allen Seiten –, aber er wurde nicht zum politischen Dichter.
Typisch idealistisch! zischte Pockrandt.