Kurz vor Mitternacht stiegen wir in den alten großen Manhattan und fuhren die fünf Minuten zu dem Treffpunkt. Mein Vater zeigte sich freundlich und besorgt. Mein Selbstvertrauen war durch seine behutsame Freundlichkeit ein wenig geschrumpft, aber ich stellte mir den Triumph vor, wenn ich mit meinen Freunden zurückbliebe und wir unseren nächsten Schritt planten. Sie würden denken, was für einen großartigen Vater ich hätte. Er und ich warteten im Wagen mit ausgeschaltetem Licht, und nichts geschah. Niemand kam. Wir warteten, bis ich mich nicht beschweren konnte, wir seien zu früh weggefahren, und dann kehrten wir nach Hause zurück.
Ich weiß nicht mehr, was danach passierte, und der einzige, der sich überhaupt an die Geschichte erinnert, bin ich. Weder meine Mutter noch meine Schwester haben eine Erinnerung daran. Mein Vater starb plötzlich an einem Herzinfarkt wenige Wochen nach dem Ausreißversuch. Die Tatsache, dass ich die einzige Person bin, die sich an jenen Abend erinnert, bewegt, ja verstört mich, wenn ich seine Bedeutung für mich bedenke. Meine Frau zog mich später gerne deswegen auf.
Vor einiger Zeit fand ich eine alte Schachtel mit Papieren, darunter ein Heft mit der Geschichte »Runaway Boy«, die ich in jenem Jahr für die Schule geschrieben hatte. Das Datum lautete November 1957, also wenige Monate nach dem »Fluchtversuch«. Die zwei kurzen Kapitel waren voller Schreibfehler, aber mit einem gewissen Stolz sah ich, dass ich die Namen der Beteiligten geändert und miteinander kombiniert hatte. Dies war wohl mein erster literarischer Versuch.
Kentucky ist übersät mit Höhlen, und meine Freunde und ich zogen immer wieder los, um welche zu entdecken. Wir fanden ein paar kleine Tunnel, die in dem umliegenden Farmland versteckt waren – Öffnungen, die feucht und dunkel und glitschig waren und wo Salamander lebten. Wir zwängten uns hinein, setzten uns und krochen dann weiter. Die Eingänge waren oft bei Bäumen zu finden, die in Senken wuchsen, wo nicht gepflügt werden konnte. Wir stöberten in solchen Kratern herum, und manchmal gab es zwischen dem Schutt und Gestrüpp einen Eingang. Im Innern stellte sich wieder das gute Gefühl ein – das so selten ist im Erwachsenenalter außer vielleicht bei Drogen und Sex –, zu träumen und in einem Versteck etwas auszuhecken, was als völlig inakzeptabel galt.
In Erinnerungen wie in Träumen sieht man sich selbst oft von außen, als wäre es ein Film. So erinnere ich mich an den Morgen nach dem Tod meines Vaters im Sommer 1957.
Die Betten, in denen meine Schwester Babette und ich schliefen, standen an den gegenüberliegenden Wänden unseres Zimmers, das neben dem Schlafzimmer unserer Eltern im hinteren Teil des Hauses lag. Ich sehe die Szene aus einem Blickwinkel nahe und über dem Kopf meiner Mutter hinweg, alles ist dämmrig und unscharf. Sie sitzt auf dem schmalen Bett meiner Schwester, das neben der Tür steht, und schaut auf mich herab. Die sechsjährige Babette sitzt auch am Bettrand, auf der anderen Seite, und hört zu, wie Mutter erklärt, dass unser Vater in der Nacht gestorben ist. Wir verstehen die Situation nicht besonders gut, auch wenn wir begreifen, dass Totsein bedeutet, er existiert nicht mehr, er ist für immer verschwunden.
Später schämte ich mich, dass die Kinder in der Schule wussten, dass mein Vater gestorben war. Ich musste mir eingestehen, dass ich darüber aufgebrachter war als über seinen tatsächlichen Tod, der nur eine Abwesenheit war (es gab nicht einmal eine Beerdigung).
Als ich acht oder neun war, war eine Zeitlang mein bester Freund ein Junge namens Rusty Roe, der wenige Häuser von uns entfernt wohnte. Er war etwa ein Jahr jünger als ich. Ich fühlte mich immer noch unsicher nach dem Tod meines Vaters. Chet, Rustys netter Vater, der Ende zwanzig gewesen sein muss, war ein Naturbursche, ein Jäger und Angler, der Waffen- und Anglermagazine abonnierte und als Hobby Tiere ausstopfte. Manchmal nahm er Rusty und mich in einem Ruderboot auf einem See mit, um Barsche zu fischen.
Ein paar Jahre lang begeisterte ich mich für Vögel. (Meiner Mutter zufolge war »bird« das erste Wort überhaupt, das ich sagte.) Ich liebte es, durch die Landschaft zu laufen und nach Vögeln Ausschau zu halten, und ich konnte sie nach ihrem Gesang und Flugmustern als auch nach ihren Nestern und Umrissen identifizieren. Rusty kam meistens mit. Auch er wusste eine Menge über Vögel. Wir hatten Petersons Bestimmungsbücher dabei. Ich sammelte verlassene Nester. Aus Balsaholz schnitzte ich Vögel und bemalte sie oder kaufte mir Bastelsätze für Vogelmodelle, um sie zusammenzukleben und anzumalen.
Eines späten Nachmittags spielten Rusty und ich in seinem Garten, als es Zeit für mich wurde, nach Hause zu gehen. Er aber meinte, ich ginge weg, weil ich ihn nicht mehr mochte. Er flehte mich an zu bleiben, begann zu weinen, sich zu entschuldigen und zu betteln, und ich merkte, einem Teil von mir gefiel es. Etwas in mir empfand Freude darüber, meinen Freund zum Weinen zu bringen. Ich hatte ihn nicht verletzen wollen, aber seine Tränen zeigten, wie sehr er mich schätzte und dass nicht ich der Verwundbare war. Es gab mir auch eine gewisse Befriedigung, auf seine Unterwürfigkeit immer unnachgiebiger zu reagieren. Durch die plötzliche Kluft zwischen uns spürte ich den Wunsch, allein zu sein. Es war schon dunkel, als ich meinen Freund verließ. Verloren stand er auf dem hochumzäunten Rasen mit dem kleinen Goldfischteich, den sein Vater ausgehoben hatte.
Vielleicht sehne ich mich ein wenig nach der Unschuld, bevor mein Verhalten berechnend wurde, doch mein Leben damals war voller Schmerz und Angst, und es war nicht einmal wirklich unschuldig. Meine nette Lehrerin in der dritten Klasse, Mrs. Monk, korrigierte mich einmal, weil ich ihrer Ansicht nach eine falsche Bescheidenheit zeigte. Sie riet mir, »nicht nach Komplimenten zu fischen«. Zuerst verstand ich nicht, was sie meinte, aber dann begriff ich mit Erstaunen, dass es möglich war, mein Verhalten misszuverstehen, zu glauben, ich tue etwas aus genau dem entgegengesetzten Grund, aus dem ich es tatsächlich tat.
Fotos von mir als Zehn- oder Elfjährigem: ein flaches, ausdrucksloses, verschmiertes Gesicht. Es gibt ein Panorama oder eine Montage von Aussichten auf die Umgebung, die leeren Hügel der Vorstadt, alles still und weich und kalt, mit grober Körnigkeit. Ich fahre auf meinem Rad durch die neu gebauten Straßen, allein, niemand sonst in Sicht. Oder ich sitze im Garten hinterm Haus, werde plötzlich meiner selbst bewusst oder gewahr, dass dieser Augenblick sich irgendwann wiederholen und meinen Zustand und die Umgebung abbilden wird.
Es war vermutlich in der sechsten Klasse, als ich zur Hochform auflief. Ich war ein Goldjunge ohne Arroganz. Meine Lehrerin in jenem Jahr, Mrs. Vicars, traf eine Vereinbarung mit mir, die es mir erlaubte, anstatt der üblichen Hausaufgaben Geschichten zu schreiben.
In der siebten Klasse jedoch stürzte ich ab, und es dauerte Jahre, bis ich es wieder nach oben schaffte. Die Babyboomer der Nachkriegszeit hatten das Schulsystem von Lexington eingeholt. Die Schulen waren so überfüllt, dass eine alte große Bruchbude im Stadtzentrum für die Nutzung von Hunderten und Aberhunderten Siebtklässlern aus der ganzen Stadt in Beschlag genommen wurde. In dieser großen Schule mit unbekannten Kindern meines Alters verlor ich jede Vorgeschichte und jedes Ansehen, das ich vorher hatte. Ich war ein Nobody, und bei meinem mangelnden Selbstbewusstsein war es unmöglich, aufzuholen. Alles, woran ich mich aus jenem Schuljahr erinnere, ist Angst und Traurigkeit, verbunden mit qualvollem Neid auf die erfolgreichen Rednecks: der dominierende, reife Gary Leach mit den bis zum Bizeps aufgerollten Ärmeln, eng anliegenden Jeans, kurzem, in präzisen Strähnen gelegtem Haar, der im Schulbus hinter mir der lieblich schluchzenden Susan Atkinson zuflüsterte: »Bei mir kannst du dich ausweinen«; der toughe, schneidige Jimmy Gill, der mit seinen abgebrochen Vorderzähnen Jerry Lee Lewis ähnelte; oder der muskulöse, selbstsichere Farmersohn Hargus Montgomery.
Es gab im letzten Moment eine aussöhnende Erfahrung. Da ich traumatisiert war und mich nichts dazu bringen konnte, irgendwelche Hausaufgaben zu machen, waren meine Noten, die ich mühelos mit Auszeichnung erworben hatte, auf befriedigend, ausreichend und schließlich ungenügend abgerutscht. Noten maß ich keine große Bedeutung bei, aber auf einmal empfand ich es als kränkend, so zu versagen. Doch als uns Ende des Jahres standardisierte »Leistungstests« gegeben wurden, erzielte ich die höchste Punktezahl in der ganzen Schule. Man hätte mir das normalerweise nicht mitgeteilt, aber die Leitung glaubte, mit mir darüber reden zu müssen. Danach bemerkte ich, dass sich die Lehrer mir gegenüber anders verhielten. Ich bekam so etwas wie Glamour. Sie blieben stehen und schauten mich an, wenn ich vorbeiging.
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