»Mach dir deswegen keine Vorwürfe, mein Schatz!«, antwortete ihr Vater liebevoll. »Wir wissen nichts über die Hintergründe, das kann alles oder nichts bedeuten. Du hast gut und verantwortungsvoll reagiert, deshalb denke ich, du kannst mit uns fahren. Lauf schnell und hole deine Jacke.«
Die beiden Ärzte holten ihre Taschen und machten sich auf den Weg zum Auto.
Traudel hatte dem Wortwechsel mit gerunzelten Brauen zugehört. »So, also die Lisa …«, murmelte sie vor sich hin. Als der Geländewagen vom Hof gefahren war, griff sie zum Telefon und rief Lisa an. »Was war das heute in der Konditorei Bernauer?«, fragte sie ohne Umschweife.
»Was? Nichts!«, antwortete Lisa überrumpelt. »Und was geht dich das überhaupt an?«
»Viel!«, entgegnete Traudel erzürnt.
»Ach, nee, das darfst du mir gerne ,etwas genauer erklären!«, spottete Lisa.
»Später!«, fuhr Traudel sie an. »Jetzt gucken wir erstmal, welchen Scherbenhaufen du hinterlassen hast, Lisa! Und ich warne dich: Wenn es Marie oder einem der Babys deinetwegen schlecht geht, dann wirst du dein blaues Wunder erleben!« Grußlos beendete sie das Gespräch.
»He!«, rief Lisa in die tote Leitung. »Was willst du denn damit sagen, alte Gewitterziege?« Wütend knallte sie ihr Telefon auf die Station zurück. Was da aber auch mal wieder für ein Aufwand um die dämliche Marie gemacht wurde! Sollte sie doch ruhig rumheulen wegen ihres Liebeskummers, war ja nichts Neues bei der! »Dumme Nuss, geschieht dir ganz recht!«, knurrte Lisa und schenkte sich einen großen Drink ein, mit dem sie sich vors Internet verzog.
Aber so ganz wollte ihr die gewohnte Ablenkung heute nicht gelingen. War es denn möglich, dass tatsächlich irgendetwas mit Marie passiert sein sollte?
*
Als die Seefelds auf dem Ebereschenhof ankamen, sahen sie zu ihrer Erleichterung, dass Maries Auto vor dem Hof stand und in der Küche Licht brannte. »Also scheint sie zu Hause zu sein«, meinte Benedikt hoffnungsvoll.
Die beiden Ärzte und Emilia gingen durch die unverschlossene Tür in die Küche, die sie leer vorfanden. »Marie? Marie, wo bist du?«, rief Sebastian und ging zur Treppe, während sein Vater die Räume im Erdgeschoss durchsuchte. Emilia lief ums Haus herum und schaute nach Hinweisen, ob ihre Freundin sich vielleicht draußen oder in einem der Nebengebäude aufhielt. Dabei entdeckte sie einen schwachen Lichtschimmer, der fast schon erloschen war.
»Papa! Opa!«, rief sie. »Hinten in der Laube scheint eine Kerze zu brennen. Vielleicht ist Marie dort.«
»Schnell, hole unsere Taschenlampen aus dem Auto und komm damit zur Laube!«, befahl ihr Vater.
Emilia raste zum Wagen, während die beiden Ärzte mit ihren Taschen hinaus in den Garten gingen. Das Licht vom Haus erhellte ihnen den Weg, und sie fanden den Zugang zur Laube sofort.
Leider war sie leer. Auf dem Tisch stand ein Windlicht mit einer erlöschenden Kerze, daneben fanden sie den Teebecher und das Handy. Eine Wolldecke lag herabgeglitten neben einem Stuhl.
»Sie muss hier gewesen sein!«, sagte Sebastian und schaute sich suchend um. »Und weit wird sie nicht gegangen sein in der Dunkelheit.«
Emilia kam mit den Taschenlampen angerannt, und dann durchschnitten zwei helle Lichtkegel die Dunkelheit. »Marie? Marie, wo bist du?« Sie begannen, systematisch die angrenzende Wiese abzuleuchten. »Marie?«
Plötzlich hörten sie ein Wimmern in der Dunkelheit, dem ein Aufschluchzen folgte. »Ihr seid gekommen, ihr seid gekommen!«
Mit ein paar langen Sätzen war Sebastian bei der Stelle, von der die Stimme erklungen war. »Mein Gott!«, stieß er hervor. Zu seinen Füßen lag Marie auf der Seite, den Körper zusammengekrümmt, die Arme um den Leib geschlungen. Sie schluchzte haltlos immer wieder dieselben Worte: »Ihr seid gekommen, ihr seid gekommen …«
Sebastian kniete neben ihr und drehte sanft, aber nachdrücklich ihr Gesicht zu sich herum. »Marie, schau mich an! Sag uns, was passiert ist.«
Die junge Frau krümmte sich unter einer neuen Wehe. Benedikt und Sebastian wechselten einen besorgten Blick. »Ich bin … gestolpert und hingefallen, mein Fuß …, ich kann nicht auftreten«, stöhnte Marie. »Ich konnte nicht wieder aufstehen, und dann …, dann haben die Wehen begonnen.«
»Emilia, setzt dich hin und nimm Maries Kopf in deinen Schoß, damit sie etwas bequemer liegt«, ordnete Sebastian ruhig an.
»Ich hole den Wagen«, sagte sein Vater und sprintete zum Hof zurück.
»Marie, bitte, hör mir gut zu!«, bat Sebastian eindringlich. »Wir sind hier, um dir zu helfen, alles wird gut! Vater holt den Wagen, und wir bringen dich in die Praxis. Du brauchst dich gar nicht viel zu bewegen, wir helfen dir.« Routiniert überprüfte er den Puls und das Aussehen der Patientin. »Du musst als erstes vom kalten Boden hoch und in die Wärme! Wie lange liegst du schon hier?«
»Ich … weiß nicht, vielleicht eine Stunde?«, murmelte Marie benommen.
»Und du hattest die ganze Zeit Wehen?«, fragte Sebastian weiter.
Die junge Frau nickte mit zusammengebissenen Zähnen.
»Hast du Fruchtwasser verloren?«, fragte der Arzt besorgt weiter.
»Nein, ich glaube nicht«, murmelte Marie.
»Das ist sehr gut!« Für den Moment war Sebastian erleichtert. Die Babys waren also noch relativ geschützt. Wenn sie es schafften, Marie in die Wärme und Sicherheit der Praxis zu bringen, hatten sie ein großes Stück auf diesem gefahrvollen Weg zurückgelegt.
»Ben …«, murmelte sie.
»Ist schon fast hier!«, antwortete Sebastian.
»Was?« Seine Worte schienen den Nebel aus Schmerz und Benommenheit durchdrungen zu haben, in dem Marie trieb. »Was hast du gesagt?«
»Dass Ben schon fast zu Hause ist! Er sitzt im Zug nach Bergmoosbach und ist bald bei dir«, erklärte Sebastian.
»Aber … was …?«, stotterte Marie.
»Besprechen wir das später, jetzt musst du so schnell wie möglich ins Warme!«, unterbrach der Arzt sie bestimmt.
Benedikt hatte den Wagen so dicht wie möglich an die kleine Gruppe herangefahren und half jetzt seinem Sohn, die Verletzte so schonend wie möglich vom Boden auf die Rückbank des Autos in ein warmes Nest aus Decken zu befördern. Sebastian setzte sich zu ihr, Benedikt übernahm das Steuer, und Emilia setzte sich neben ihn. So schnell wie nötig und so behutsam wie möglich fuhren sie zur Praxis hinunter. Sebastian behielt Maries Zustand im Auge, während er per Telefon einige knappe Anweisungen an Traudel durchgab und die Uniklinik wegen der Brutkästen und der Kinderspezialisten verständigte. Sie Kollegen waren mit Blaulicht und Sirene auf dem Weg nach Bergmoosbach, während Benedikt den Wagen vorm Praxiseingang stoppte.
Die Türen flogen auf, und Anna und Traudel nahmen sie in Empfang. In der Praxis war der Behandlungsraum bereits hochgeheizt, die Liege in die Mitte des Zimmers geschoben und mit zusätzlichen Laken und Kissen ausgestattet. Alles, was Anna zur Geburt brauchte, lag bereit. Zwei Federkissen waren mit geübten Handgriffen in Taschen verwandelt worden, die für die beiden Frühchen in der ersten Not den wärmenden Brutkasten ersetzen mussten.
Während Traudel die junge Frau von ihrer klammen und schmutzigen Kleidung befreite und ihr auf die Liege half, tauschten die drei Mediziner besorgte Blicke. Ihre größte Sorge war, dass die Frühchen so unreif waren, dass sie beatmet werden mussten, und das konnte eine Landarztpraxis nicht bieten. Es würde dauern, bis die Kollegen von der Klinik mit den entsprechenden Geräten hier waren, bis dahin musste es eben so gehen.
»Es sind nur vier Wochen, die den Kleinen fehlen«, sagte Sebastian leise zu Anna, als sie sich die Hände wuschen und desinfizierten.
Die