Der neue Landdoktor Box 1 – Arztroman. Tessa Hofreiter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tessa Hofreiter
Издательство: Bookwire
Серия: Der neue Landdoktor
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783740980641
Скачать книгу

      »Der Tod meiner Mutter hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Als ich meine Frau vor einem Jahr verlor, haben Emilia und ich uns gegenseitig Halt gegeben und uns immer wieder daran erinnert, dass unser Leben weitergeht.«

      Er ist noch lange nicht über seinen Verlust hinweg, dachte Anna, als sie die Trauer in seinen Augen sah. Für einen Moment schien dieses wundervolle helle Grau sich zu verdunkeln, so als wollte er jeden Blick von außen in sein Innerste abwehren, während er mit seiner schlanken feingliedrigen Hand sein Glas umfasste und nachdenklich mit den Fingern über die glatte Fläche strich.

      »Ich habe versucht, Emilia Vater und Mutter gleichzeitig zu sein. Aber das hat nicht funktioniert, ich kann ihr die Mutter nicht ersetzen, in diesem Alter ist das ohnehin schwierig.«

      »Sie lieben Ihre Tochter, ich bin sicher, Sie würden alles für Sie tun, aber verlangen Sie nicht von sich, perfekt zu sein, Herr Doktor Seefeld.«

      »Sebastian, wir sind seit einigen Stunden doch ein Paar, wir sollten uns duzen«, sagte er und hielt ihren Blick fest.

      »Wir sind ein Paar?«, fragte sie verblüfft.

      »Richtig, ein Patenpaar, oder gibt es das nicht?«

      »Ich habe zwar noch nie gehört, dass jemand es so ausdrückt, aber Sie, ich meine, du hast recht.«

      »Gut, dann sollten wir auf den kleinen Bastian und auf uns anstoßen.« Sebastian ging zum Kühlschrank und holte die Flasche Prosecco, die Traudel stets dort aufbewahrte und von der sie sich jeden Tag ein Schnapsglas voll gönnte, um den Kreislauf anzuregen, wie sie sagte. Er füllte zwei Champag­nergläser und stellte die Flasche zurück in den Kühlschrank.

      »Auf das Wohl unseres Patenkindes und auf uns«, sagte er, als er Anna eines der beiden Gläser reichte und sich wieder zu ihr an den Tisch setzte.

      »Auf eine glückliche Zukunft für uns alle.«

      »Eine Zukunft ohne Svens.«

      »Ja, unbedingt. Es ist mir ein bisschen peinlich, dass ich das vorhin einfach so erzählt habe, das war nicht wirklich angebracht.«

      »Es hat dir auf der Seele gelegen, du hast dir Luft gemacht. Und du musst dir nicht die geringsten Sorgen machen, dass ich es ausplaudere. Ich nehme meine ärztliche Schweigepflicht ernst«, versicherte er ihr und betrachtete sie mit einem Lächeln, das Anna einen Schauer über den Rücken jagte.

      »Der Auflauf«, sagte sie, als die Backofenuhr schrillte.

      »Stimmt.«

      »Du solltest ihn aus dem Ofen nehmen.«

      »Ich weiß.«

      »Sebastian«, flüsterte sie, als er sie nur ansah und sich nicht bewegte.

      »Wir haben Hunger, richtig?«

      »Ja, haben wir«, antwortete sie lächelnd.

      Wenig später stand der nach Thymian und Oregano duftende Auflauf vor ihnen auf dem Tisch, und auch Se­bastian spürte jetzt, dass er Hunger hatte.

      »Köstlich wie immer«, lobte Anna Traudels Spezialität, während sie es sich schmecken ließ.

      »Ja, ganz köstlich«, sagte Sebastian und schenkte ihr erneut ein Lächeln. »Was ist mit deiner Familie, Anna, lebt sie in München?« Er wollte gern mehr über diese Frau erfahren, die er gerade erst kennengelernt hatte und die ihm doch schon so vertraut erschien.

      »Meine Eltern leben zurzeit in Indien. Sie arbeiten im Entwicklungsdienst. Meine Mutter als Biologin und mein Vater stellt sein Wissen als Forstwirt zur Verfügung.«

      »Interessante Familie.«

      »Leider sehe ich meine Eltern nicht sehr oft«, seufzte Anna, »aber sie lieben dieses Leben, und ich bin ja schon groß«, fügte sie lachend hinzu.

      Nach dem Essen räumten sie das Geschirr in die Spülmaschine, und Sebastian öffnete die Fensterläden, die ihnen die Sicht nach Osten versperrten. Sie setzten sich nebeneinander auf das alte Ledersofa und schaute in die Dunkelheit hinaus.

      »In einer halben Stunde geht die Sonne auf, der erste Sonnenaufgang für unser Patenkind, wir sollten ihn uns ansehen«, sagte er.

      »Und dem kleinen Bastian alles Glück dieser Welt wünschen.«

      »Das werden wir tun«, antwortete Sebastian und lehnte sich zurück.

      Anna wagte es nicht, sich ihm zuzuwenden, zu verräterisch wäre ihr Blick gewesen. Es war unglaublich aufregend, ihm so nahe zu sein. Dieser Mann, den sie so stark erlebt hatte, als es darum ging, Sabine und ihr Kind zu retten, hatte sich ihr nun auch von seiner verletzlichen Seite gezeigt.

      Sie saßen ganz still nebeneinander und schauten auf die Berge am Horizont, die sich allmählich aus dem Schatten der Nacht lösten. Bald strichen die ersten Sonnenstrahlen über den Himmel, färbten ihn feurig rot und tauchten die Gipfel der Alpen in rotgoldenes Licht.

      »Wie ist der Sonnenaufgang in Kanada?«, fragte Anna.

      »Wenn du dich auf den neuen Tag freust, dann ist diese Stunde an jedem Ort dieses Planeten großartig.«

      »Ja, das ist sie«, entgegnete Anna und schloss die Augen, weil sie plötzlich so müde war.

      Als sie wieder zu sich kam, lag sie mit einer Decke zugedeckt auf dem Sofa. Ihre Schuhe standen auf dem Boden. Von Sebastian war nichts zu sehen.

      »Elf Uhr«, sagte sie laut, als sie auf ihre Armbanduhr schaute. Sie hatte fast fünf Stunden geschlafen. Ihr fiel ein, dass Sebastian irgendwann gegangen war. Vermutlich schlief er noch.

      Auf dem Küchentisch lag ein Zettel: »Es ist jetzt halb elf, muss kurz zu einem Hausbesuch, bin gleich zurück«, hatte Sebastian geschrieben.

      Sie zuckte zusammen, als es an der Haustür läutete. Hatte Sebastian seinen Schlüssel vergessen? Vielleicht war es aber auch ein Notfall. In der Diele schaute sie kurz in den Spiegel, fuhr mit beiden Händen durch ihr zerzaustes Haar und zog danach die schwere Haustür aus dunklem Holz auf.

      »Was machst du denn um diese Zeit hier?« Miriam Holzer, deren Familie das Sägewerk in Bergmoosbach gehörte, starrte Anna verblüfft an.

      »Wir hatten heute Nacht einen Notfall.«

      »Wenn man dich holt, dann ging es wohl um eine Geburt. Doch nicht etwa Traudel? Hat das alte Mädchen sich doch noch entschlossen, eine eigene Familie zu gründen?«, fragte Miriam und lachte über ihren eigenen Scherz.

      »Bist du verletzt?« Anna überhörte die Anspielung auf Traudels Alter und ihre Kinderlosigkeit und schaute auf das blau-weiß karierte Männertaschentuch, das Miriam um ihre rechte Hand gewickelt hatte.

      »Deshalb bin ich hier. Ich war mit Harald Baumann draußen im Forst, die Sturmschäden besichtigen, und er schlägt mir einen Ast direkt auf die Hand. Der Mann ist wirklich unglaublich tollpatschig«, schimpfte sie.

      Miriam kam aus dem Wald, das erklärte, warum sie in Jeans und Gummistiefeln herumlief und nicht in ihren Designerkleidchen wie gewöhnlich. Anna mochte Miriam nicht besonders. Sie bildete sich ein bisschen zu viel auf ihre blonden langen Haare, das hübsche Gesicht und die dunkelblauen Augen ein, die sie zusammen mit ihrem Schmollmund immer richtig einzusetzen wusste, wenn sie ihren Willen haben wollte. Anna hatte sie im Pilateskursus kennengelernt, den sie beide zweimal in der Woche besuchten. Viel hatten sie aber nicht miteinander zu tun. Miriam und ihre Freundinnen, die ebenso geltungssüchtig wie sie waren, blieben meistens unter sich.

      »Entschuldigung, würdest du bitte aufhören, mich so anzustarren und stattdessen Sebastian rufen«, riss Miriam Anna aus ihren Gedanken.

      »Tut mir leid, er ist nicht da.«

      »Gut, dann gehe ich zu Benedikt.«

      »Auch er ist nicht da.«

      »Aber Traudel?«

      »Nein, außer mir ist niemand hier. Wenn du willst, kann ich mir deine Hand ansehen.«

      »Du