Pompeji. Massimo Osanna. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Massimo Osanna
Издательство: Автор
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Жанр произведения: История
Год издания: 0
isbn: 9783806243932
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werden, auf der sich eine mit Schuppenmuster verzierte Basis in einen vielköpfigen Schlangenkörper (Farbtafel 5) verwandelt, vielleicht eine Hydra, die dem Heros und der Göttin zugewandt ist – dann hätten wir hier eine Darstellung einer der Aufgaben des Herkules. Es könnte sich allerdings auch um die Kultstatuen des Tempels handeln, bedenkt man, dass die Ikonografie im samnitischen Pompeji des 4. und 3. Jahrhunderts v. Chr. eine Wiederbelebung erfuhr und in den kleinformatigen Votiv-Terrakotten belegt ist, die in verschiedenen Tempeln der Minerva zwischen Pompeji und Sorrent gefunden wurden. Der pompejanische Bau mit seiner reichen Dekoration an mythischen Bildern wäre dann die erste Etappe einer Route gewesen, die wie ein Pilgerweg ähnliche Kultstätten miteinander verband: von Pompeji bis zum Heiligtum der Minerva an der Punta della Campanella bei Sorrent.

      Bei einem Territorium, das von einer ethnisch vielfältigen Gemeinschaft besiedelt war, ist es, wie gesagt, sehr schwierig, von architektonischen Stilen zu sprechen. Zweifellos ist das spätarchaische Dach des pompejanischen Tempels das Ergebnis des Zusammentreffens zweier Traditionen: der monumentalen Bauweise Westgriechenlands, wie sie etwa die Tempel Paestums verkörpern, und der kampanischen Bauweise, die die Werkstätten aus Cumae repräsentieren.30 Deutlich wird dies in den Verkleidungsplatten mit Anthemienfries (einem Friesband mit stilisierten Pflanzenelementen), einem charakteristisch kampanischen Element, das mit der im westgriechischen und achäischen Raum verbreiteten Löwensima mit Blattrahmung kombiniert wurde.

      Auch wenn die ältesten Befunde in begrenzter Zahl vorliegen, so machen seine prominente Lage, die monumentale Steinarchitektur und sein hohes Alter den Tempel dennoch zum Angelpunkt der sakralen Landschaft Pompejis, dem das Heiligtum des Apollo zur Seite gestellt wurde. Die Verbindung der beiden Kultstätten wurde in den nachfolgenden Phasen allerdings noch deutlicher.

      Dieses Gesamtbild, das die Ergebnisse der älteren Ausgrabungen zeichnen, lässt sich nun um die Daten aus den neuen Untersuchungen ergänzen, insbesondere im Hinblick auf die Topografie und die Veränderungen der sakralen Landschaft im Kontext der Stadtentwicklung. Wie jüngste Forschungen gezeigt haben, ist der Untergrund des Stadthügels sehr heterogen. Das Gelände fällt von Nord nach Süd kontinuierlich, von Ost nach West hingegen in Stufen ab. Zudem gibt es im gesamten Stadtgebiet diverse Geländeversprünge. Die markanteste Zäsur ist eine in Nord-Süd-Richtung verlaufende schmale Senke, in der die heute so genannte Via Stabiana verläuft – seit archaischer Zeit teilte sie das Stadtgebiet in zwei mehr oder weniger gleich große Hälften.31 Auch das Areal, auf dem der Minervatempel entsteht, muss heterogen gewesen sein. Die neuen Ausgrabungen konnten zeigen, dass das Lavaplateau nicht nur im Süden, sondern auch Richtung Osten steil abfiel. Der Tempel überragte also Richtung Osten ein tiefer liegendes Gelände, in dem sich die Bebauung der Regio I entwickelte und später die Theaterbauten errichtet wurden (Abb. 7). Die Geländeformation erwies sich demzufolge als idealer Standort für den monumentalen dorischen Tempel: Er war dort bereits aus der Ferne für jeden, der sich der Stadt vom Meer aus näherte, zu sehen.

      Diese Situation machte eine Reihe von Vorkehrungen zur Entwässerung des Areals notwendig: schmale, mit Flusskieseln ausgelegte Gräben, die das Areal auf der nordwestlichen Seite, das heißt in Richtung des etwas höher gelegenen inneren Stadtgebiets, begrenzen (Abb. 8). Auf der Ostseite war das Heiligtum auf natürliche Weise durch den steilen Abhang des Lavaplateaus begrenzt. Wahrscheinlich war der schroffe Abhang durch natürliche Terrassen unterbrochen, die aber offenbar zum Teil geebnet und zugänglich gemacht wurden – denn hier, auf der Rückseite des Tempels und auf etwas tieferem Niveau, befanden sich grottenartige, natürliche Öffnungen für rituelle Zwecke. Im Jahr 2017 wurden zwei miteinander verbundene Hohlräume freigelegt, die zwar teilweise eingestürzt, aber noch immer gut erkennbar waren. Im westlichen, besser erhaltenen Hohlraum war sogar noch das Zugangssystem sichtbar: eine in den Lavafels gearbeitete Öffnung mit einigen in den Fels gehauenen Stufen (Abb. 9). Diese charakteristische sakrale Landschaft der archaischen Zeit scheint unverändert in die neue Phase der Wiederbesiedlung der Stadt im 4. Jahrhundert v. Chr. übernommen worden zu sein. Tatsächlich wurden die Hohlräume erst um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. mit Votivmaterial und Bauschutt verfüllt. Sie fungierten damit gewissermaßen als Tresore der Erinnerung.

      Die Verfüllung der Hohlräume fällt in eine Zeit großer Veränderungen, nicht nur im Bereich des Foro Triangolare, sondern in der gesamten Stadt. In dieser Phase wurden zahlreiche öffentliche Gebäude, wie etwa das große Theater,32 errichtet, dessen Anlage diesen strategisch günstig gelegenen Bereich der Stadt dauerhaft charakterisieren sollte. Im Heiligtum der Minerva und in den unmittelbar angrenzenden Arealen werden wir also Zeugen einer substanziellen Veränderung der Architektur und der sakralen Landschaft insgesamt, mit der jener ausgeprägte „naturhafte“ Aspekt, der sie zu Anfang charakterisiert hatte, verloren ging.

      Abb. 7 Blick von oben auf das Foro Triangolare und das Theaterviertel westlich der Via Stabiana. Aufgrund der charakteristischen Geländeformation liegt das Heiligtum der Minerva auf einem nach Süden abfallenden Felssporn über einer natürlichen Senke, die zu einem späteren Zeitpunkt für die Anlage der Theater genutzt wurde. (Archiv PAP.)

      Doch dies ist eine andere Geschichte, nämlich die einer Stadt, die nach der Krise des 5. Jahrhunderts v. Chr. von neuen Siedlern, den Samniten, Protagonisten neuer Mobilitäts- und Migrationsphänomene, wieder zum Leben erweckt wurde: Von den Bergregionen Mittelitaliens zogen die Samniten allmählich in Richtung der adriatischen und der tyrrhenischen Küste (doch parallel zu diesen Migrationsphänomenen sollte auch die Präsenz der Einheimischen berücksichtigt werden, die der Stadt zu einer neuen Blüte verholfen hatten).33

      Abb. 8 Im westlichen Bereich des Heiligtums der Minerva wurden im Rahmen jüngerer Grabungen diverse Entwässerungskanäle freigelegt. Die Kanäle waren mit Flusskieseln ausgelegt, um Regen- und Oberflächenwasser effizient abzuleiten. Als man die Gräben abdeckte, begleitete man dies wohl mit der Opferung eines Pferdes, dessen Gebeine am Boden des Kanals gefunden wurden.

      Die Heiligtümer in der frühen italischen Periode

      Die beiden Heiligtümer überdauerten sowohl die hellenistische Phase Pompejis zwischen dem 4. und dem 1. Jahrhundert v. Chr. als auch die römische Zeit. Es ist anzunehmen, dass die Heiligtümer – anders als in der archaischen Zeit, in der sie wohl auch als Orte des überregionalen Austauschs unter sakralem Schutz dienten – in der samnitischen Zeit als „lokale“, von der indigenen Bevölkerung frequentierte Kultstätten fungierten. Trotz der Zäsur des 5. Jahrhunderts v. Chr. (die auch die Heiligtümer betraf, wie wir aus dem Fehlen von dieser Epoche zugehörigem Fundmaterial schließen können) blieb die Erinnerung an die Sakralität dieser beiden Orte bestehen.34 Die Heiligtümer Pompejis wurden ab dem späten 4. Jahrhundert v. Chr. wieder instand gesetzt, ohne dass es dabei zu einer topografischen Veränderung gekommen wäre: Als die neue Gemeinschaft begann, die Auswirkungen der Krise des 5. Jahrhunderts v. Chr. zu überwinden,35 stellte sie die Stadt erneut unter den Schutz der Gottheiten Apollo und Minerva, und die Kultaktivitäten wurden wieder aufgenommen.

      Abb. 9 In der Grabungskampagne von 2017 wurden zwei natürliche Hohlräume an der Südseite des Heiligtums entdeckt. Diese grottenartigen Öffnungen wurden zu rituellen Zwecken genutzt. Sie waren über in den Fels gehauene Stufen zugänglich. Um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. wurden sie aufgegeben und mit Votivmaterial sowie Bauschutt verfüllt.

      Die Architektur des Minervatempels wurde erneuert. Die Arbeiten betrafen das Dach und wohl auch das aufgehende Mauerwerk. Die Zuschreibung des Heiligtums an Minerva ist in dieser Phase durch zahlreiche Befunde gestützt (Abb.