Pompeji. Massimo Osanna. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Massimo Osanna
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: История
Год издания: 0
isbn: 9783806243932
Скачать книгу
nach anderen Parametern gemessen wurde als in der Welt der Menschen.

      Auch in einer Stadt wie Pompeji muss man daher auf die Praxis der archäologischen Ausgrabung zurückgreifen und nicht nur die Schicht unter den Bimssteinlagen des Vesuvausbruchs, sondern auch die Schichten unterhalb der Nutzungshorizonte von 79 n. Chr. untersuchen. Das Erdreich birgt Hinweise auf die ältesten Phasen der Stadt. Berühmte Grabungsplätze wie der unsere zeigen neuen Forschungsvorhaben allerdings auch ihre Grenzen auf. Die Heiligtümer Pompejis waren – wie die großen Heiligtümer anderer berühmter antiker Städte, von der Akropolis in Athen über Olympia bis nach Rom – bereits in der Vergangenheit Gegenstand großangelegter und wiederholter Ausgrabungen. Und das zumeist in einer Zeit, als man auf die Auswertung der Kontexte oft weniger Wert legte als auf die Freilegung von Gebäuden mit monumentaler Wirkkraft und die Bergung von Artefakten, die ausgestellt werden oder in gelehrte Diskussionen einfließen konnten. Der Untergrund Pompejis ist schon häufig sondiert worden. Gerade in den bekannten Kultstätten wurden Grabungsschnitte angelegt, da man erwartete, hier schöne Objekte und kostbare Weihgeschenke zu finden. Man könnte also neuen Ausgrabungen und den faktischen Möglichkeiten, die Rituale auf diesem Wege zu rekonstruieren, durchaus mit einer gewissen Skepsis gegenüberstehen.8 Kurz: Viele der pompejanischen Heiligtümer sind infolge früherer archäologischer Untersuchungen, die schlecht dokumentiert und teils auch schlecht durchgeführt wurden, stark in Mitleidenschaft gezogen.

      Doch trotz dieser objektiven Schwierigkeiten gab es in den letzten Jahren die eine oder andere Überraschung. Es ist nun möglich, das Kultgeschehen in neuem Licht zu betrachten. Und das bedeutet wiederum, dass es durchaus sinnvoll ist, Untersuchungen auch dort durchzuführen, wo in der Vergangenheit bereits umfassend geforscht und gegraben wurde. Voraussetzung dabei ist, dass man geeignete Methoden und alle Technologien einsetzt, die uns heute zur Verfügung stehen.9

      Selbst in den Augen der ersten Ausgräber, die die Heiligtümer ohne größere Aufmerksamkeit für die archäologischen Kontexte auf der Suche nach Objekten freilegten, muss die Bedeutung und Besonderheit dessen, was sie da ans Licht holten, überdeutlich gewesen sein. Als man 1764 den Isistempel ausgrub, brachte dies das Europa der Aufklärung in direkten Kontakt mit der (alt)ägyptischen Religiosität. Und der imposante, 1767 ausgegrabene Tempel am Foro Triangolare musste die Ausgräber an die Steinarchitektur von Paestum erinnern und damit auf die älteste Phase der Stadt Pompeji verweisen. Dieser unerwartete Blick in eine fernere Vergangenheit führte dann auch zu ersten Spekulationen über die Ursprünge der Stadt. Die Ausgrabungen schritten weiter voran, und Anfang des 19. Jahrhunderts wurden weitere Kultstätten entdeckt, darunter der Tempel des Jupiter und das Heiligtum des Apollo am Forum. Letzterer wurde sehr bald als einer der ältesten Kultorte Pompejis erkannt. Die damaligen Entdeckungen lösten eine mehr oder weniger fundierte wissenschaftliche Debatte über die korrekte Zuweisung der freigelegten Heiligtümer an einzelne Gottheiten aus: Die Identifikation basierte üblicherweise auf der Analyse der literarischen und epigrafischen Zeugnisse sowie der Kultbilder und Dekorschemata.10

      Wenn man die Blüte und den Niedergang der Heiligtümer des Apollo und der Minerva am Foro Triangolare (und des suburbanen Heiligtums des Fondo Iozzino) betrachtet, dann zeigt sich das gesamte, wechselhafte Schicksal der Vesuvstadt, von der beeindruckenden Entwicklung in der archaischen Zeit (6. Jahrhundert v. Chr.) über den ebenso beeindruckenden Niedergang im 5. Jahrhundert v. Chr. und die langsame, aber stetige Erholung der Stadt im Laufe des 4. Jahrhunderts v. Chr. bis zum strahlenden Höhepunkt im 2. Jahrhundert v. Chr., und weiter von den Zäsuren und Kontinuitäten im Zusammenhang mit der Gründung der römischen Kolonie im 1. Jahrhundert v. Chr. über die Schäden des Erdbebens von 62 n. Chr. bis zum „tragischen Epilog“ im Jahr 79 n. Chr. Einige Heiligtümer überdauerten die Jahrhunderte, andere kamen im Laufe der Stadtgeschichte hinzu, wieder andere wurden aufgegeben oder erfuhren in anderer Hinsicht eine neue Beliebtheit ohne topografische Veränderungen, wenn das Territorium von neuen und anderen Bevölkerungsgruppen besiedelt wurde. Alle veränderten sich sowohl in ihrer architektonischen Form als auch in der dekorativen Ausstattung. Die materielle Ausprägung des Kultes wurde den neuen Bedürfnissen der Kultgemeinschaft in der sich wandelnden Stadt und auch an Moden, die kamen und gingen, angepasst. Die Heiligtümer von Apollo und Minerva jedenfalls blieben über die gesamte Siedlungsgeschichte der Stadt vom 6. Jahrhundert v. Chr. bis zum Vesuvausbruch 79 n. Chr. bestehen.

      Wie geht man nun aber vor, wenn man das Erdreich innerhalb eines heiligen Bezirks „befragen“ will? Welche Art von Informationen können wir erwarten? In der Analyse der unterschiedlichen Ausprägungen der Kulte verschiedener Völker der Vergangenheit – und auch unserer heutigen Welt – kam der „Materialität“ von Religion in den letzten Jahren erneut Aufmerksamkeit zu.11 Die Forschung lenkte den Diskurs vor allem auf die Objekte, durch die sich Religionen als symbolische Universen behaupten, die die Wechselbeziehung zwischen Gemeinschaft und Territorium bedingen und weiterentwickeln können.12 Das Thema der Erinnerung und ihrer physischen Verortung (ihr „materieller Rahmen“ – gemeint sind Orte, an denen sich Erinnerung durch ein Denkmal, ein Objekt, einen Felsen oder dergleichen vergegenständlicht) ist zu einem wichtigen Forschungsthema geworden: Die Erinnerung, das kollektive Gedächtnis, ist in der Tat oft von „religiöser Bedeutung“ durchdrungen, die sich vor allem im Ritual konkretisiert (und bewahrt). Der Ritus macht in der Regelmäßigkeit seiner Wiederholung die „Gründungs“-Vergangenheit aktuell, auf die stets verwiesen wird, um Identität und Zugehörigkeitsgefühl der Gemeinschaft zu stärken.

      Indem wir die Gegenstände „befragen“ und die Aufmerksamkeit auf die materiellen Hinterlassenschaften richten, können wir also verschiedene Aspekte antiker Gesellschaften aufdecken und etwas darüber erfahren, wie diese Menschen lebten und sich die Welt vorstellten.13 Am Golf von Neapel etwa wirkten sich das prekäre Gleichgewicht in archaischer Zeit, die Phase der Rückentwicklung im 5. Jahrhundert v. Chr., die Anfänge der römischen Eroberung der kampanischen Städte im 4. Jahrhundert v. Chr., die charakteristische Öffnung der italischen Gesellschaft auf das Mittelmeer im Rahmen einer neuen koine und der Prozess der Romanisierung zwischen dem 3. und 1. Jahrhundert v. Chr. auf die Ausformung des Sakralen sowie auf seine Umsetzung und Erscheinung im steten Dialog zwischen Tradition und Erneuerung aus.

      Zuallererst ist es wichtig, zu fragen, welchen Göttern die Heiligtümer geweiht waren. Welche waren die Götter der Pompejaner? Und vor allem: Welche Menschen hatten sie in die Stadt gebracht? Die aus Inschriften bekannten Götter (Apa im Heiligtum des Fondo Iozzino, Athena [Minerva] im Tempel am Foro Triangolare, Apollo im Heiligtum am Forum usw.) waren pompejanisch, obwohl sie griechische oder etruskische Namen hatten oder aus der griechischen, etruskischen, italischen oder orientalischen Welt (wie etwa die Göttin Isis, deren Kult im 2. Jahrhundert v. Chr. eingeführt wurde) stammten. Auch heute noch wird die Herkunft dieser Götter in einem Kampanien, das von verschiedenen Völkern und ethnischen Gruppen bevölkert war, diskutiert.14 Doch egal, woher sie kamen: Diese Götter wurden pompejanisch, nachdem sie mit Entstehung der Stadt eingeführt und den Bedürfnissen der neuen Gemeinschaft angepasst worden waren. In den Anfängen wird es sich wohl kaum um ein systematisch geordnetes Pantheon gehandelt haben, das etwa von den ersten Stadtbewohnern en bloc eingeführt worden wäre. Götter kamen mit etruskischen oder griechischen Namen in die Stadt, je nachdem, wer sie eingeführt hatte, und dank der Areale, die für sie innerhalb der Stadtmauern reserviert worden waren – was sich gewissermaßen strukturgebend auswirkte –, hatten sie sich schnell etabliert.15

      So gemischt die Bevölkerung der neuen Stadt war, so heterogen waren ihre Gottheiten, aber auch die Werkstätten und Arbeiter, die an der Monumentalisierung der Heiligtümer beteiligt waren. In Pompeji waren zahlreiche Handwerker mit unterschiedlichem Wissen und verschiedenen Fähigkeiten aktiv, geleitet von den Erfahrungen des Architekten und den Wünschen und Vorstellungen des Auftraggebers. Gemeinsam gestalteten sie die Orte, an denen die neuen Gottheiten, die von „Kolonisatoren“ oder aus dem weiteren Umland in die neue Siedlung eingeführt wurden, ihren Sitz haben würden. Es entstanden die ersten Tempel, die Häuser der Götter: Die Stadt Pompeji weist bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. eine monumentale Architektur auf und ist insofern mit den sehr fortschrittlichen griechischen Städten in der Umgebung, von Cumae bis Paestum, und den großen Zentren Mittelitaliens, von Tarquinia bis Rom, vergleichbar.

      Bei diesen Gebäuden beeindruckte neben ihrer generellen monumentalen Erscheinung vor allem