Pompeji. Massimo Osanna. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Massimo Osanna
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: История
Год издания: 0
isbn: 9783806243932
Скачать книгу
ehemaligen Besitzer überlebt und den Prozeß der Zerstörung überdauert hatten […]“.12

      Pompeji hat zwei Leben, hat viele Leben. Welches ist das aktuelle, unser heutiges Pompeji? Es ist fast unmöglich, die Vesuvstadt eindeutig zu definieren, denn wie jede belebte Stadt ist Pompeji ein sich stets veränderndes System aus Beziehungen, ein Ort des Ausprobierens und der Emotionen. Seit seiner Wiederentdeckung war das Pompeji der Ausgrabungen und Restaurierungen immer mit dem imaginären Pompeji verflochten, das in der Kreativität von Schriftstellern, Malern, Bildhauern und Architekten weiterlebt. Wissenschaftler und Künstler ermöglichten es uns – ja ermöglichen es uns noch –, unser eigenes Pompeji zu erleben: jeder mit seiner eigenen Präsenz, seinen Emotionen, seinem Wissen, seiner Neugierde, seinen Wahrnehmungen, seinen Empfindungen.13

      Das Buch, das Sie in Händen halten, erzählt von meinem Pompeji: von der Stadt, die in den letzten Jahren dank der unermüdlichen Arbeit eines interdisziplinären Teams von Fachleuten und Mitarbeitern, das ich koordinieren durfte, die (tatsächlichen oder angeblichen) Skandale und die (von der Presse mehr oder weniger emphatisch beschriebenen) Einstürze vergessen ließ. Am Beispiel der neuesten Ausgrabungen und Entdeckungen, bei denen Denkmalschutz und Forschung sowie Forschung und Kommunikation immer Hand in Hand gingen, wird vom langen Lebenszyklus der Stadt (vom 7. vorchristlichen bis zum 1. nachchristlichen Jahrhundert), von ihren Heiligtümern, vom Stadtraum, vom Alltagsleben und von der ungebrochenen Aktivität berichtet, die für jede Stadt im Mittelmeerraum typisch ist. Zum ersten Mal werden die bedeutenden Entdeckungen der letzten Jahre, die die Grabungsarbeiten in der Regio V ans Licht brachten, ausführlich vorgestellt: vom Orion-Mosaik über die Leda mit dem Schwan bis hin zum neuen Stadtviertel. Kapitel 11 ist dem modernen Pompeji gewidmet: von den ersten Ausgrabungen im Zeitalter der Aufklärung bis heute – zum Grande Progetto Pompei.

      Dieses Buch ist für all jene gedacht, die sich mit der antiken Stadt auseinandersetzen wollen, die sie lieben und die fasziniert sind von ihren zahlreichen Leben.

      Pompeji, 11. Oktober 2019

      Kapitel 1

      Pompejis langes Leben: die Heiligtümer und die Stadt

      Pompeji wurde gegen Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. gegründet und war im 6. Jahrhundert v. Chr. bereits eine richtige Stadt, doch aus dieser Frühzeit sind weder Wohnbauten noch Grabanlagen bekannt. Mittlerweile können wir zwar einen Stadtplan dieser ersten Phase rekonstruieren (Abb. 1).1 Innerhalb des Straßennetzes, mit dessen Rekonstruktion man sich in den letzten Jahren systematisch beschäftigt hat, wissen wir aber wenig über konkrete Orte des täglichen Lebens. Von diesen haben sich nur wenige Mauerreste unterhalb der späteren Nutzungshorizonte, die von Archäologen als „samnitisch“ (4. bis 2. Jahrhundert v. Chr.) und „römisch“ (1. Jahrhundert v. Chr. bis 1. Jahrhundert n. Chr.) bezeichnet werden, erhalten. Unbekannt sind auch die Orte der Toten: Die ältesten Grabstätten waren zum Zeitpunkt des Vesuvausbruchs 79 n. Chr. bereits unter mehreren Metern Erdreich verborgen.2

      Dagegen kennen wir Heiligtümer dieser Zeit, die den Göttern geweihten Orte. Üblicherweise suchte die Gemeinschaft an diesen Orten monumentale Strukturen zu schaffen, die sowohl der Götter als auch der Stadt selbst, als deren Schutzgötter sie fungieren sollten, würdig waren. Heiligtümer sind von vielen archaischen Städten die vergleichsweise besser bekannten Orte: religiöse Architekturen, vor deren monumentalen Kulissen Feste und Zeremonien den steten Fluss der Zeit und der Jahreszeiten strukturierten. Ungeschriebene Regeln, das Zeremoniell des Ritus, definierten ihren Ablauf. Festgelegte, aber stets erneuerbare rituelle Handlungen gaben der Gemeinschaft einen räumlichen und temporären Rahmen, in dem sich die Bürger der Stadt auch als Gruppe erkennen konnten. Tatsächlich waren Heiligtümer ein Instrument zur Integration verschiedener sozialer und ethnischer Komponenten der Stadtgemeinschaft. So wurden sie im Laufe der Jahre zu Orten der Erinnerung, an denen der Gemeinschaftssinn der Bürgerschaft bewahrt und gestärkt wurde. Für uns, die wir Jahrhunderte später die Geschicke der Stadtbewohner untersuchen, sind sie hervorragende historische Archive. Das Erdreich gleicht einem Karteikasten, in dem Dokumente und Zeugnisse der Vergangenheit, Fragmente von über Jahrhunderte hinweg verborgen gebliebenen Geschichten, Gebräuchen und Kulturen, bewahrt werden.3

      Abb. 1 Das vermutete Straßennetz des archaischen Pompeji. Schwarz: die im archäologischen Befund gesicherten Straßenzüge sowie dokumentierte Überreste der ältesten Stadtmauer und die beiden Heiligtümer.

      Wir wissen, dass die Stadt Pompeji in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. entstanden ist – zuvor war die Flussebene des Sarno durch verstreute Siedlungen charakterisiert. Beleg für diese Entstehungszeit sind eben Spuren der ersten Sakralbauten: Die Heiligtümer entstanden und entwickelten sich zusammen mit der Stadt. Sie verkörperten ihre Identität, ihr Wesen. Daneben belegt ein Befestigungsring (Abb. 2), der seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. die 64 Hektar große Stadt umschloss, dass die Urbanisierung des Areals zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen war. Der urbane Charakter ist für uns also an den Stadtmauern und den Heiligtümern ablesbar. Wo die zentralen Bereiche des öffentlichen Lebens in dieser Phase lagen, ist noch nicht geklärt, sie werden aber unter dem Forumsplatz der römischen Stadt vermutet.4

      In der Vesuvstadt, wie auch an den meisten anderen Orten des antiken Italiens, an denen Antikes zu finden ist, sind es nahezu ausschließlich archäologische Ausgrabungen, die Informationen über Heiligtümer liefern.5 Wir haben keine literarischen Quellen, in denen sie erwähnt werden, und die wenigen Inschriften der Zeit – abgesehen von denen aus dem Heiligtum des „Fondo Iozzno“, auf die wir uns im nächsten Kapitel konzentrieren werden – beinhalten kaum Informationen über den Ritus, den Glauben oder die Zeremonien. Von einem stratigrafischen, archäologischen Kontext, von Schichtenfolgen und Gefäßen auf Handlungen zu schließen, ist jedoch keine leichte Aufgabe. Insbesondere dann nicht, wenn man versucht, ein Ritual zu entschlüsseln – es könnte von Fall zu Fall unterschiedlich gewesen sein und hat womöglich gar keine materiellen Spuren hinterlassen.6 Handlungsabläufe, die aus Gesten, Bewegungen, Tanzschritten, Anrufungen, Gebeten und Gesängen bestanden, sind schwer zu rekonstruieren, wenn diese kollektiven Erinnerungen nicht auch schriftlich fixiert wurden. Ohne eine Niederschrift in Stein oder anderen haltbaren Materialien, ohne „heilige Gesetze“ geraten solche Performances zwangsläufig irgendwann in Vergessenheit. Die im Ritus verwendeten Objekte bleiben meist stumm, es sei denn, man entwickelt spezifische hermeneutische Verfahren, um ihnen ihre Stimme und Sprache wiederzugeben.

      Abb. 2 Fotografie aus den 1930er-Jahren: Ausgrabungen im Südosten der Stadt brachten in unmittelbarer Nähe der späteren Stadtmauern einen älteren Befestigungsring aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. ans Licht. Er besteht aus größeren Blöcken aus sogenanntem Pappamonte und Lava tenera. (Archiv PAP.)

      Genau darin besteht die Arbeit des Archäologen: jedes Fragment, jeden Hinweis, jedes Dokument zu sammeln und in ein kohärentes System einzuordnen, um dann – einfach ausgedrückt – eine Geschichte zu rekonstruieren. Es geht um die vielen Geschichten von Frauen und Männern, die lange vor uns an einem bestimmten Ort, an dem wir heute den Erdboden auf der Suche nach Antworten untersuchen, ihre Spuren hinterließen.7

      In einem Heiligtum erlauben eine Grube mit Votivgegenständen, die Form eines steinernen Altars oder die Anordnung von Statuenbasen entlang eines Weges, einzelne Facetten der Gesellschaft, die diese Zeugnisse hervorgebracht hat, zu beleuchten. Sie erlauben aber auch Rückschlüsse auf die Lebenssituation derjenigen, die hierherkamen und an den religiösen Ritualen teilnahmen. Die Aufgabe des Archäologen besteht nun darin, anhand von Gegenständen, Architektur und allgemein anhand der Überreste von Ereignissen und Handlungen jene Momente