Pompeji. Massimo Osanna. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Massimo Osanna
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: История
Год издания: 0
isbn: 9783806243932
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Heiligtum kamen seit dem späten 7. Jahrhundert v. Chr. regelmäßig Menschen aus Pompeji (und wohl auch von den Häfen Kampaniens, wo sie angelegt hatten, um Handel zu treiben) zusammen, um einer Gottheit Objekte und Speiseopfer darzubringen. Auf einem eleganten Kantharos gab eine Expertenhand in etruskischer Sprache dem unbelebten Objekt das Wort. Bei der Trinkschale handelt es sich um ein Bucchero-Gefäß, also jene typisch etruskische Keramikgattung, die sich durch eine schwarz glänzende Oberfläche auszeichnet – man erlangte sie durch einen geschickten Brennprozess unter Sauerstoffreduktion (Abb. 29 und 30)3.

      Abb. 26 Die Karte mit Höhenlinien zeigt die günstige Lage des Heiligtums des Fondo Iozzino außerhalb der Stadt: auf einer Hügelkuppe unweit des Meeres. Wer das Areal heute aufsucht, wird die herausgehobene Lage nicht mehr als solche erkennen können, denn das Gebiet wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts zugebaut. (Plan: L. Ferro)

      Dieses sprechende Gefäß mutet magisch an, nennt es doch einen Protagonisten einer rituellen Opferhandlung: „Ich gehöre Mamarce Tetana.“ Der Name gibt uns Hinweise auf die Biografie des Opfernden: Marmarce ist ein Vorname und kommt in noch zwei weiteren Inschriften des Fondo Iozzino vor. Vor allem aber handelt es sich um einen der im antiken Etrurien, dem nördlichen Latium und Umbrien, verbreitetsten Vornamen. Bekannt ist er aus Fundstätten in Veji, Cerveteri, Tarquinia und insbesondere aus Orvieto, dem antiken Volsinii. Bereits vor der Entdeckung der pompejanischen Inschriften war er aus anderen Grabungsplätzen in Kampanien bekannt gewesen, wohin er mit etruskischen Einwanderern gelangt war.4 Der Gentilname Tentana wiederum leitet sich von einem Vornamen ab, der der etruskischen Bezeichnung für „Großvater mütterlicherseits“ entlehnt ist. In Kampanien war er bis dato nicht bekannt gewesen. In Etrurien war er als Vorname in Veji bezeugt und, analog zu unserem pompejanischen Beispiel, als Gentilname in Nordetrurien.5 Wir haben demnach einen jener zusammengesetzten Familiennamen vor uns, die wohl in dem Moment entwickelt wurden, als der Stammvater eines Geschlechts Teil einer bürgerlichen Gemeinschaft wurde.6 Um einen zweigliedrigen Namen zu erzielen, wie er für den Status als Vollbürger notwendig war, hatte die betreffende Person ihren ursprünglichen Vornamen in einen Gentilnamen verwandelt und einen neuen Vornamen gewählt. Im vorliegenden Fall wird der Gentilname Tetana demnach aus dem ersten, geerbten Individualnamen eines Vorfahren unseres Protagonisten gebildet worden sein, als er (möglicherweise in der neuen Stadtgemeinschaft Pompejis) zum Vollbürger wurde.

      Abb. 27 Blick auf den östlichen Teil der antiken Stadt und das moderne Pompeji.

      Abb. 28 Bei Ausgrabungen in den 1960er-Jahren entdeckte man im Fondo Iozzino drei Terrakottastatuen weiblicher Gottheiten. Sie sind heute im Antiquarium in Pompeji ausgestellt. (Archiv PAP)

      Abb. 29 Bucchero-Gefäße aus dem Heiligtum des Fondo Iozzino. Es handelt sich um eine Keramikproduktion etruskischer Tradition, deren dunkle Farbe dank eines reduzierten Brands (das heißt ohne Sauerstoff) im Töpferofen erzielt wurde. (Archiv PAP)

      Abb. 30 Umzeichnung eines Kantharos, einer typischen Trinkgefäß-Form innerhalb der Bucchero-Keramik. Das Stück ist eines der sogenannten „sprechenden Gefäße“, denn nach dem Brand wurden Inschriften eingeritzt. (Umzeichnung: C. Pellegrino)

      Versuchen wir also, den Namensträger näher kennenzulernen. Mamarce Tetana war ein Mitglied der pompejanischen Gesellschaft. Mit ein wenig Fantasie können wir uns vorstellen, dass er von einem nicht-freien Vorfahren abstammte, der zum Zeitpunkt seiner Übersiedlung und Einbürgerung in die Stadt Pompeji das Vollbürgerrecht erworben hatte (mit Übernahme des geerbten Gentilnamens). Mobilität ermöglicht häufig, damals wie heute, die Gelegenheit zum sozialen Aufstieg.

      Das Objekt, das Mamarce in dem pompejanischen Heiligtum darbrachte, kann uns also mitteilen, wer sein Eigentümer war – oder besser: welchen Hintergrund er hatte. Gleichzeitig informiert es uns über sich selbst. Durch die Inschrift bekräftigte unser Protagonist nicht nur sein Eigentumsrecht am Objekt, sondern er hinterließ auch ein dauerhaftes Pfand seiner Anwesenheit im Heiligtum, zum zukünftigen Andenken. Es ist, als reduzierte das „ich“ der Inschrift den eigentlichen Besitzer auf eine Stimme, die für das Objekt spricht: Der Text wurde eingeritzt und während der rituellen Handlung deklamiert (und später von den Besuchern des Heiligtums gelesen); er spricht aber nicht für ein beseeltes Objekt, im Sinne etwa einer ursprünglichen, animistischen Vorstellungswelt, sondern zeigt ganz einfach das auf, was der Autor des Textes übermitteln wollte. Das Objekt an sich bleibt stumm. Eingeritzt wurde eine Abfolge der phonetischen Laute – und sie war es, die den Diskurs in demjenigen, der las und gleichzeitig deklamierte, ergaben. Tatsächlich wurde beim Ritual mit lauter Stimme rezitiert, es gab keinen inneren Dialog mit der Gottheit. Der Lesende wurde zum wesentlichen (stimmlichen) Instrument, das dem geschriebenen Text die eigentliche Kommunikation ermöglichte. Dabei wurde das Eigentumsrecht der genannten Person am Gefäß und an seinem Inhalt, nämlich der Flüssigkeit, die am Beginn der rituellen Handlung noch da, dann aber, am Ende der Geschehens, weg war, bezeugt.7

      Mamarce war nur einer der vielen Menschen, die zwischen der Mitte und dem Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. in das pompejanische Heiligtum kamen, um solche „sprechenden Objekte“ zu weihen. Sehen wir uns einen weiteren beschrifteten Kantharos an: Der Schriftzug wurde auf dem inneren Rand des Standfußes eingeritzt, üblicherweise nach dem Brennvorgang (Abb. 31 und 32). Das Gefäß erzählt von einer anderen Person. Der Name des Weihenden ist in der Besitzformel „Dem Leθe Velχsna [gehöre] ich.“ angegeben. Auch wenn die Formel hier abweicht, das Resultat bleibt das gleiche: Das Gefäß, das bezeugt, dem Leθe Velχsna zu gehören, sprach durch die Stimme des während der rituellen Handlung Deklamierenden zur Gottheit. Es sprach aber auch zu denen, die der Zeremonie beiwohnten, und zu allen, die den Text zu einem späteren Zeitpunkt lasen. Die Kommunikation mit der Gottheit nahm häufig einen solchen dualen Charakter an. Denn sie richtete sich nicht nur an die Gottheit selbst, sondern auch an die übrige Glaubensgemeinschaft und wurde (erst) dank dieser zwischenmenschlichen Funktion auf religiöser und sozialer Ebene bedeutsam.8

      Wer war nun die Person, die der Gottheit den Inhalt des Gefäßes dargebracht und das Gefäß am Ort der rituellen Handlung niedergelegt hatte? Wer war Leθe Velχsna, der den zeremoniellen Akt ausführte und mittels der eingeritzten Inschrift zu erreichen suchte, dass das Gefäß zusammen mit seinem Namen auch diesen bedeutenden Moment des „Zwiegesprächs“ mit der Gottheit dauerhaft für die Erinnerung bewahrte? Der Vorname Leθe ist im Heiligtum des Fondo Iozzino noch in einem zweiten Beispiel (mi leθ[- - -]), sonst bisher aber in keinem weiteren Fundort in Kampanien belegt. Bekannt ist dieser Name allerdings – und das überrascht uns kaum – aus dem Etrurien des 5. Jahrhunderts v. Chr. Dort findet man ihn sowohl als Vor- wie auch in seiner Abwandlung als Gentilname üblicherweise in Verbindung mit servilen, untergeordneten Gesellschaftsklassen.9 Auch der Familienname Velχsna ist typisch etruskisch. Bezeugt ist er in Tarquinia (eingeritzt in eine Wand der Tomba Cardarelli), in Veji (eingeritzt in ein der Minerva im Heiligtum von Portonaccio geweihtes Kästchen) sowie im Binnenland Etruriens, in Perugia und Chiusi.10 Auch Leθe Velχsna könnte demnach jemand gewesen sein, dessen sozialer Aufstieg (bzw. eher sogar der Aufstieg seiner Familie) mit der Eingliederung in die pompejanische Bürgerschaft zusammenfiel. Wenn dem so wäre, erwiese sich Pompeji als ein Ort der sozialen Durchlässigkeit und damit als attraktiv für verschiedene