Pompeji. Massimo Osanna. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Massimo Osanna
Издательство: Автор
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Жанр произведения: История
Год издания: 0
isbn: 9783806243932
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haben.

      Sehen wir uns noch eine weitere Inschrift an, in der ein Schreiber der Zeit eine komplexere Nachricht anvertraut hat. Der Schriftzug ist diesmal außen an einer Trinkschale, etwas unterhalb des Randes, angebracht worden (Abb. 33): mi manile θavhana ei minipi ca[pi---]. Der Weihende ist hier verkürzt nur mit dem Gentilnamen (Manile) genannt. Daneben steht der Gattungsname des gestifteten Objekts (θavhana: thafna = Trinkbecher). Darauf folgt die an den Betrachter gerichtete Aufforderung, sich nicht des Gefäßes zu bemächtigen. Solche Formeln kommen in Heiligtümern häufig vor: Objekte erhielten durch ihre Weihung an die Götter eine sakrale Aura, und ein Tabu verbot die erneute Verwendung. Derjenige, der den Text in das Gefäß eingeritzt hatte, wollte demnach bekräftigen: „Ich bin die Schale des Manile; niemand soll mich nehmen.“ Mit einer solchen Inschrift verwies man aber nicht nur auf das Eigentumsrecht – das dauerhaft und unabhängig von der Präsenz des Gefäßes im Heiligtum bestehen blieb – und somit auf die Erinnerung an den Besitzer, sondern man brachte auch seine Sorge um den künftigen Verbleib des Objekts zum Ausdruck.11 Unabhängig davon, ob hierbei ein Fluch explizit formuliert ist oder nicht: Ein solcher Warnhinweis unterstreicht die Sakralität des sprechenden Gefäßes und verdeutlicht zugleich den speziellen Handlungsrahmen, in dem es verwendet wurde: Es war ein bedeutender Moment der Kontaktaufnahme mit der Gottheit.

      Solche in die Gefäße eingeritzten Inschriften kamen während der neuen Ausgrabungen im Fondo Iozzino zahlreich ans Licht: knapp siebzig – bislang waren fünfzehn etruskische Vaseninschriften aus Pompeji bekannt gewesen (die Vesuvstadt steht, dank der neuesten Entdeckungen, somit an erster Stelle der Fundstätten außerhalb Etruriens, die etruskische Inschriften überliefern). Dazu kommt noch die in etwa doppelte Anzahl an Ritzzeichen, darunter Buchstaben (insbesondere a und χ, also die Anfangs- und Endzeichen des Alphabets) und andere Zeichen wie Kreuze, mit oder ohne Arme, die in einem Dreizack ausgehen, Sterne, Bäumchen und fünfzackige Sterne; sie wurden häufig außen, in der Unterseite des Gefäßes, eingeritzt. Diese Markierungen, deren Bedeutung uns oft verborgen bleibt, müssen wohl dazu gedient haben, das Gefäß als sakrales Behältnis zu „kennzeichnen“, findet man sie doch nur bei denjenigen Gefäßen, die eine prononcierte rituelle Wertigkeit aufweisen und damit einen weiteren Kommunikationskanal mit dem Göttlichen verdinglichen.12

      Abb. 31 Die in den Votivgegenstand eingeritzten Inschriften konnten während der rituellen Handlung deklamiert und (später) von denjenigen gelesen werden, die das Heiligtum besuchten. Die Informationen, die diese Inschriften beinhalten, geben damit zugleich etwas über diejenigen preis, die sie gewidmet haben, wie auch über die Art und Weise, in der das Ritual gefeiert wurde. (Archiv PAP)

      Abb. 32 „Dem Leθe Velχsna [gehöre] ich.“ Diese Formel findet sich eingraviert auf dem Standfuß eines der dem Heiligtum gestifteten Gefäße. Der Vorname Leθe, der nur aus Etrurien bekannt ist, ist mit Angehörigen der unteren sozialen Schichten in Verbindung zu bringen, wie dies mit einer gewissen Häufigkeit auch für andere Objekte im Fundmaterial möglich ist. Angehörige der Unterschicht, die in ein anderes, neu gegründetes Gebiet umsiedelten, strebten wahrscheinlich nach neuen Sicherheiten und einer neuen Perspektive des sozialen Aufstiegs. (Umzeichnung: C. Pellegrino)

      Abb. 33 Die Inschrift folgt einer auf Votivgaben häufig wiederkehrenden Formel: „Ich bin die Schale des Manile; niemand soll mich nehmen.“ Die Opfergabe, einmal im Heiligtum deponiert, wurde zum geweihten Objekt; Diebstahl und Verlagerung konnten bestraft werden. Manchmal wurden über Zuwiderhandelnde wahrhaftige Flüche gesprochen. (Archiv PAP)

      Die Protagonisten des Kultes

      Als Archäologe ist man mit den gleichen Fragen konfrontiert wie jeder andere Betrachter: Welche Informationen lassen sich aus diesen so zahlreichen Inschriften über die Menschen gewinnen, die sie angefertigt haben? Was führte diese Personen zu genau diesem Heiligtum unweit des Flusshafens der Stadt Pompeji? Bevor wir versuchen, diese Fragen zu beantworten, muss angemerkt werden, dass die Schriftzeichen natürlich durchaus auch von jemand anderem als dem eigentlich an der Opferszene Beteiligten eingeritzt worden sein könnten. Tatsächlich suggeriert die auffällige Uniformität, dass womöglich andere, etwa das in der Schrift geübtere Personal des Heiligtums, die fehlende Alphabetisierung der Besucher kompensierten. Vielleicht rezitierten diejenigen, die das Ritual vollzogen, also einen Text, den sie zuvor anderen diktiert hatten? Allerdings bleibt die Funktion des Textes dieselbe, unabhängig davon, wer letztlich die Zeichen auf dem Gefäßkörper eingeritzt hat. Das Gleiche gilt für die Informationen, die wir über die mit ihrer „Unterschrift“ auf den Gefäßen erscheinenden Personen gewinnen können.

      Die meisten Votive und liturgischen Objekte verweisen aufgrund der Sprache, des gewählten Alphabets und ihrer Form ohne Zweifel auf Menschen etruskischer Herkunft. Es bleibt selbstverständlich problematisch, allein aus der Sprache oder der Materialität der Objekte – oder ganz allgemein: anhand von zur Schau gestellten kulturellen Merkmalen – auf die ethnische Zugehörigkeit einer Gruppe zu schließen. Im hier behandelten Zeitfenster erweist sich Kampanien, wie wir bereits gesehen haben, als ein Territorium hybrider Kulturen, in dem sich Sprachen und Schriftformen ebenso vermischten wie Gepflogenheiten und handwerkliche Traditionen. Die Städte und Häfen im Mittelmeerraum waren damals von einer ausgeprägten Mobilität von Menschen und Objekten umspannt wie von einem großen Netz. Gruppen unterschiedlicher Herkunft und „ethnischer Zugehörigkeit“ waren aufgrund der in Süditalien bereits ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. greifenden Phänomene von Migration und Kolonisierung in permanentem Kontakt. Menschen aus dem ägäischen Raum verließen ihre Heimat, siedelten in Ischia und gründeten Cumae sowie zahlreiche andere Städte entlang der Küsten Süditaliens und Siziliens. Im Binnenland der italischen Halbinsel lassen sich diese Phänomene bereits für den Anfang des 1. vorchristlichen Jahrtausends beobachten: Volksgruppen zogen von einem Ende des Landes zum anderen, darunter beispielsweise die Etrusker, die bis nach Kampanien vorgedrungen sind.13

      Die These vom „etruskischen Pompeji“ war bereits im 19. Jahrhundert Gegenstand gelehrter Dispute. Innerhalb der neueren Forschung wurde es weitgehend abgestritten.14 Jetzt taucht es dank der im Heiligtum des Fondo Iozzino entdeckten Inschriften mit Vehemenz wieder auf. Die bezeugten Familiennamen sind tatsächlich alle etruskisch, wie die Häufigkeit der typischen, auf -na endenden Gentilnamen und deren weite Verbreitung in Latium und dem südlichen Umbrien belegt. Und auch die Vornamen, die als „schwache“ Glieder der Namensformeln wohl noch mehr über den kulturellen Kontext, in dem sie gewählt wurden, aussagen, sind etruskisch: Auch Laris, Larice, Leθes, Mamarce und Venel sind typische Namen Mittelitaliens und sind archäologisch in Städten wie Cerveteri, Tarquinia, Veji und Orvieto bezeugt.

      Die große Anzahl der in Pompeji überlieferten kompletten Namensformeln mit Vornamen und Gentilnamen belegt die Frequentierung des Heiligtums durch erwachsene männliche Gläubige – zumindest wissen wir dadurch von denjenigen, die ihren Namen zur zukünftigen Erinnerung hinterlassen haben. Sie zeigten damit ihre Zugehörigkeit zur pompejanischen Gemeinschaft und folglich auch die Landnahme und das daraus folgende Recht, ihren Grundbesitz weiterzuvererben. Der pater familias gab auch seinen Rechtsstatus an seine Erben weiter. Die zweigliedrige, den vererbbaren Gentilnamen beinhaltende Namensformel ist eine ausdrückliche Bezugnahme auf das Eigentumsrecht der Familie.15

      In den meisten Fällen sollten wir in den Weihenden wohl eher nicht Handeltreibende sehen, als vielmehr Angehörige der städtischen Bürgerschaft, die als Besitzer von Land innerhalb einer wachsenden Gemeinschaft der sich formierenden, erst kurz zuvor an den Abhängen des Vesuvs, unweit der Sarno-Mündung gegründeten Stadt auftraten.

      Insgesamt zeugen das homogene Set der Inschriften aus dem Heiligtum und das Fehlen von Textzeugnissen, die man auf die anderen demografischen Komponenten