Die deutschen Fieseler-Bomber ließen sich von den veralteten polnischen Jagdflugzeugen nicht abhalten, die auf gut Glück – aber wenig erfolgreich – nach ihnen schossen, und nahmen auch weiterhin im Tiefflug die Flüchtlingskolonnen unter Beschuss. Binnen Wochen war die Hälfte der polnischen Luftwaffe außer Gefecht gesetzt, und die andere Hälfte hatte sich nach Frankreich zurückgezogen. Kurz darauf trat auch der Großteil der polnischen Kriegsmarine und Infanterie den Rückzug an oder stieß zu den Truppen der Alliierten. Nachdem die Soldaten fort waren, verblieben auf den Landstraßen im Nordosten Polens nur noch die Scharen von Zivilisten, die aus ihren Heimatorten geflüchtet waren. Immer neue Wellen von Flüchtlingen spülten die Leichen der Ermordeten – wie Chana Weiss und ihre Töchter – an den Wegesrand. Jiskor-Bücher und Gedenksteine sind an eine Stadt, eine Nation, einen bestimmten Ort gebunden; an die Menschen, die auf dem Weg von einer Stadt in die andere, von einem Land in das nächste sterben, erinnern sie nicht. Kein Gedenkstein vermerkt den Tod der Weiss-Mädchen und ihrer Mutter, genauso wenig wie den Tod jener unzähligen anderen, die in den ersten Kriegswochen entlang der hundert Kilometer langen, von Flüchtlingen verstopften Landstraße zwischen Ostrów und Białystok ihr Leben ließen.
Rund 1,5 Millionen polnische Juden – fast die Hälfte der gesamten jüdischen Bevölkerung Polens, dazu noch katholische Polen, Litauer und Angehörige anderer Minderheiten – befanden sich am Ende der ersten Kriegsmonate auf sowjetischem Territorium, sei es, weil sowjetische Truppen ihre Heimatorte besetzt hatten, sei es weil sie – wie die Familie Teitel – vor der nahenden Wehrmacht nach Osten geflohen waren.
Nachdem sie die Grenze zur Sowjetunion passiert hatten, beschlossen Zindel und Ruchela Teitel, sich mit ihren Kindern vom Rest der Familie zu trennen, der in Richtung Białystok weiterfahren wollte, und stattdessen den Weg nach Siemiatycze einzuschlagen, wo Ruchela aufgewachsen war. Ruchelas Mutter, Esthera Averbuch, und ihr jüngerer Bruder Daniel lebten noch immer dort und führten einen kleinen Textilhandel. Ruchelas ältere Schwester, Mascha Halberstadt, hatte geheiratet und wohnte mit ihrem Ehemann und zwei Kindern ganz in der Nähe. Siemiatycze hatte zum russischen Zarenreich gehört, dann zur Sowjetunion und war schließlich, im Jahr 1921, Teil der Republik Polen geworden. Und nun sollte es – nach einer kurzen, aber umso grausameren Besetzung durch deutsche Truppen vom 11. bis zum 13. September 1939, wiederum in sowjetische Hände fallen.
Am 15. September brach die polnische Verwaltung in Siemiatycze zusammen. Am 17. September rückte die Rote Armee in die Stadt ein. Bis Ende September war die gesamte Verwaltung, waren alle Schulen und sonstigen öffentlichen Einrichtungen vollständig sowjetisiert, während die Stadt sich zugleich mit Tausenden von Flüchtlingen füllte, was ihre Einwohnerzahl innerhalb der ersten Kriegsmonate auf das Dreifache ansteigen ließ. Dieses Schicksal teilte Siemiatycze mit so gut wie allen Städten im Grenzgebiet, die vor Kurzem noch polnisch gewesen und jetzt an die Sowjetunion gefallen waren.
An einem schönen, frischen Junimorgen – es war der Tag nach unserem Besuch in Ostrów – machten Salar und ich uns im Fond eines Taxis auf den Weg, um die Strecke nachzufahren, auf der die Familie Teitel von ihrer Heimatstadt nach Siemiatycze gekommen war. Wir brauchten anderthalb Stunden. Sie waren damals tagelang unterwegs gewesen. Auf der Strecke war ihnen das Benzin ausgegangen und sie hatten den Chevrolet-Lastwagen zurücklassen müssen. Stattdessen fuhren sie mit einem Pferdefuhrwerk weiter, für das Zindel notgedrungen ein Vermögen gezahlt hatte. (Momen un domem, sagte mein Vater später bei seiner Zeugenaussage, um den maßlos überhöhten Kaufpreis zu beschreiben – eine talmudische Wendung für eine Unsumme: „Gut und Blut“.) Auch mussten sie einen großen Teil ihrer Habe zurücklassen. Kaum zwei Wochen nach ihrer Flucht war ihnen nicht mehr geblieben als ein großer Koffer, ein Kochtopf mit Zubehör, vier Pelzmäntel, eine große Daunendecke, etwas Bargeld, ihr Schmuck, Uhren und Dokumente. Jetzt waren sie endgültig zu Flüchtlingen geworden, ihr altes Leben war vergangen wie die Blume auf dem Feld.
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Anders als in Ostrów gibt es in Siemiatycze durchaus noch Spuren der jüdischen Vergangenheit: Auf der langen heruntergekommenen Einkaufsstraße der Stadt finden sich hier und da noch Ladenschilder in jiddischer Sprache; die elegante Synagoge aus dem 18. Jahrhundert ist heute ein Gemeindezentrum, das auch eine etwas befremdliche „Ausstellung“ zum jüdischen Leben in der Stadt beherbergt: eine Kippa und ein Schofarhorn; es gibt einen jüdischen Friedhof, auf dem einige Grabsteine noch erhalten sind und der auf Kosten einer „Familie Gutman aus Florida“ instand gesetzt wurde, und betagte polnische Anwohner des Friedhofsgeländes, die gern davon erzählten, wie sie einst von den Fenstern ihrer Häuser aus den jüdischen Trauerzügen zuschauen konnten. Einer Volkszählung aus dem Jahr 1921 zufolge stellten die Juden vor dem Zweiten Weltkrieg ganze 61 Prozent der Einwohnerschaft von Siemiatycze, einem Städtchen mit rund 5000 Einwohnern.
Hannan zog also mit seiner Schwester und den Eltern in die ohnehin schon enge Wohnung über der Textilhandlung Averbuch ein, wo sie mehrere Monate lang blieben. Bis zum Januar 1940 hatten die Russen auf dem Marktplatz der Stadt eine Leninstatue aufgestellt; eine nächtliche Ausgangssperre verhängt; die allgegenwärtigen Kreuze durch rote Sterne ersetzt; Fotos von polnischen Politikern durch Fotos von sowjetischen Politikern ersetzt und die lateinische Beschriftung auf den Straßenschildern durch kyrillische. Sie ließen Transparente mit pro-sowjetischen Parolen aufhängen und ersetzten den polnischen Złoty durch den russischen Rubel im Verhältnis von eins zu eins. Sie erließen Handelsbeschränkungen, legten Höchstpreise fest und verboten Hamsterkäufe – Maßnahmen, mit denen nicht nur die Einwohner der Stadt, sondern genauso die Soldaten der Roten Armee zur Mäßigung gebracht werden sollten, denn diese waren ausgehungert und schlecht gekleidet. Die gut gefüllten Schaufenster von Siemiatycze erschienen den Rotarmisten nur zu verlockend, und so schlugen sie sich anfangs maßlos die Bäuche voll.
Aus Kauf wurde Diebstahl, dann Beschlagnahme und schließlich Enteignung, die Privatfirmen und vormals polnische Staatsbetriebe gleichermaßen traf. Auch die Textilhandlung Averbuch blieb nicht verschont. Binnen weniger Monate war den meisten Einwohnern von Siemiatycze die Lebensgrundlage weggebrochen, ganz gleich, ob sie nun Bauern waren oder Kleinhändler, so wie Ruchelas Familie. Ruchelas ältere Schwester Mascha war zusammen mit ihrem Ehemann Yosef Halberstadt und ihren Kindern Sarah und Hannania, die jeweils etwas älter waren als mein Vater und seine Schwester Regina, aus ihrem Wohnort Siedlce entkommen, den die Deutschen nun besetzt hielten, und zog mit ihrer ganzen Familie ebenfalls in die winzige Wohnung der Großmutter in Siemiatycze ein. Dann jedoch beschlagnahmten die sowjetischen Besatzer das Haus und vertrieben alle drei Familien – Averbuch, Halberstadt und Teitel – in ein nahe gelegenes Dorf. Ihre Möbel und all ihr sonstiges Hab und Gut mussten sie in den überfüllten Räumlichkeiten zurücklassen, die fortan von der Roten Armee genutzt wurden.
Zindel beschloss, dass sie sich auf den Weg nach Kowel machen würden, einer wesentlich größeren, fast 300 Kilometer südöstlich von Siemiatycze gelegenen Industriestadt. Diesen Beschluss fasste er allein, ohne Rat einzuholen oder andere in sein Vorhaben einzuweihen. Damit verhielt er sich noch immer so, wie es auch zwei Monate zuvor seine Angewohnheit gewesen war: „Mein Tate … hat gewollt, dass wir still sind, und ist auch selbst mit keinem Wort herausgerückt“, sollte Hannan später zu Protokoll geben. Bevor sie aufbrachen, und trotz aller Spannungen und allen Elends, feierten sie noch Hannans Bar Mizwa. Sie leerten die letzte Flasche Teitel- Bier, die sie auf ihre Flucht mitgenommen haben, sangen gemeinsam, und mein Vater trug seine alijah vor, den „ersten Tora-Aufruf “, für den er zu Hause in Ostrów monatelang geübt hatte. Als die Kinder am nächsten Morgen aufwachten, wartete bereits ein Pferdegespann auf sie, das die ganze Familie nach Kowel bringen sollte. Dort trafen sie, inmitten einer wahren Flutwelle von anderen Flüchtlingen, Mitte April 1941 ein.
In Kowel war die Lage, wie sich zeigte,