Die Bulle gewinnt ihren Stellenwert in erster Linie durch den betont feierlichen Charakter der Urkunde. Ihr Inhalt ist nicht neu, wohl aber die Zusammenstellung vieler Bestimmungen zu einer derartigen Verfassung. Dabei regelt die Bulle wie gesagt nicht primär das Zusammenspiel der Staatsfunktionen im Reich, denn die Rede ist weder von Steuern noch von einem Parlament, einer Armee oder einer Hauptstadt, weder von der Regierung noch von irgendeinem Stand, nicht einmal von einer behutsamen Reichsreform. Wirklich innovativ ist der Text hinsichtlich der Rituale, auf die neun der 31 Artikel Bezug nehmen und die nie zuvor so eingehend schriftlich festgehalten worden waren.32 Ein Bemühen um Rationalisierung ist hierin jedoch nicht zu sehen, im Gegenteil, die Bulle erschafft eine ganz neue Vorstellungswelt für die Symbole der Macht. Eine neue Ordnung verlangt nach neuen Ritualen und neuen Bildern. Hoheitsgewalt manifestierte und definierte sich im Mittelalter unter anderem durch Rituale, Festakte und symbolische Handlungen, die weder die dahinterstehende Politik verschleiern sollten noch eine entbehrliche folkloristische Zugabe darstellten; sie waren vielmehr die Voraussetzung für die Existenz und Nachvollziehbarkeit der Souveränität.33 Die Bulle sollte nicht nur Unstimmigkeiten über die Rangordnung vorbeugen, sondern zudem Regeln aufstellen, die von der Nachwelt weder vergessen noch gestrichen noch ersetzt werden sollten. Sie markiert zugleich die Geburtsstunde einer neuen Rangfolge, die durch das visuelle Motiv des Königs im Kreis seines Kurkollegiums verkörpert wird, aber auch durch die Relegierung der Königin an den Schluss der Krönungsprozession, weil in einer Wahlmonarchie nicht mehr sie den Thronfolger stellt.34 Vor allem aber beantworteten die in der Bulle festgeschriebenen Rituale ab 1356 eindeutig die Frage, was das Heilige Römische Reich eigentlich ausmachte. Erst wenn die Bedeutung dieses Zeremoniells verwässert würde (was Goethe hinsichtlich der Zustände im Reich und der Frankfurter Kaiserkrönungen im 18. Jahrhundert zu erkennen meinte),35 erst wenn es nur noch als altmodische Bürde empfunden würde, verlöre sich auch der Charakter des Reiches als stabilem Verband, bestehend aus einem König und seinen Kurfürsten, und als Wechselspiel zwischen den Kurfürsten, die pars pro toto das Reich repräsentieren wie das goldene Siegel des Kaisers die Gesamtheit der Urkunde.
Zunächst jedoch gaben die Bestimmungen von 1356 dem Kaiser in der Praxis einen relativ großen Handlungsspielraum, von der Konzentration auf die Befriedung des Reiches über den Rückzug in seine angestammten Gebiete in Luxemburg und Böhmen und einen Ausgleich zwischen Ost und West bis zur Wiederaufnahme einer kaiserlichen Politik, die über die Reichsgrenzen hinaus vor allem nach Italien schaute. Keine dieser Optionen schloss der Kaiser von Vornherein aus, keine vernachlässigte er. Klug hütete er sich davor, starrsinnig eine Richtung weiterzuverfolgen, wenn dies das Ganze zu schwächen drohte, wie es in Italien oder an den Westgrenzen des Reiches der Fall war. Seine Präferenz stand dennoch fest, und zwar nicht erst ab 1356, sondern schon seit dem Jahrzehnt davor: Das dauerhafte Fundament und das Sprungbrett seiner Dynastie sollte Böhmen sein.
Die Konsolidierung der Hausmacht
Im Westen hatte Karl IV. zunächst nach Kräften die Expansionspolitik seines Halbbruders Wenzel von Luxemburg aus nach Brabant und Limburg unterstützt. Beide Herzogtümer waren ihm 1352 als Mitgift seiner Frau Johanna von Brabant zugefallen. Wenzels Expansion stieß jedoch auf Widerstand seitens des benachbarten Herzogtums Jülich, dessen Fürst sich mit dem Herzog von Geldern zusammentat. Gemeinsam schlugen sie 1371 bei Baesweiler das Luxemburger Heer und setzten Wenzel gefangen. Der Kaiser musste seinen Halbbruder „freikaufen“. Er zahlte Wilhelm von Jülich eine „Entschädigung“ in Höhe von 50 000 Gulden, wobei der ehrenrührige Begriff „Lösegeld“ vermieden wurde, und erteilte Wilhelms Sohn die Erlaubnis, sein Herzogtum mit dem Herzogtum von Geldern zu verschmelzen. Die Luxemburger mussten daraufhin alle Pläne für eine territoriale Expansion in diesen Teil des Reiches aufgeben. Bewahren konnten sie das dreifache Herzogtum Luxemburg, Brabant und Limburg, das jedoch nach dem Tod Herzog Wenzels 1383 auseinanderbrach. Jedes Mal, wenn Karl IV. ab 1356 zwischen seinen westlichen und östlichen Besitzungen wählen musste, entschied er sich für Letztere, weil in seinen Augen dort die Zukunft seines Hauses lag.
Wie andere vor ihm, machte sich Karl IV. von Anfang an Gedanken darüber, ob und wie sein Königreich, seine Hausmacht und seine Dynastie ihm bei der Erlangung und Erhaltung der römisch-deutschen Krone helfen konnten, ohne aber aus dem Auge zu verlieren, wie sich die Interessen des Reiches im Gegenzug letztlich auf Böhmen auswirkten. Beide waren auf Gedeih und Verderb miteinander verwoben. Karl IV. trug bis an sein Lebensende beide Titel, und es ist ganz gewiss kein Zufall, dass es gleich zu Beginn seiner Vita heißt, er widme dieses Werk „den Nachfolgern, die auf meinen zwei Thronen sitzen“.36 Er war bei Weitem nicht der erste mittelalterliche Monarch, der zwei oder mehr Kronen auf seinem Haupt vereinigte. Statistisch war das doppelte oder dreifache Königtum sogar eher die Regel als die Ausnahme. Doch auch diese Tatsache machte es nicht einfacher, zwei oder drei Regierungen unter einen Hut zu bringen. Die Interessen des einen Reiches sind nicht zwangsläufig dieselben wie die eines zweiten oder gar dritten, umso mehr, wenn es ein König- und ein Kaiserreich auszubalancieren gilt.37 Aus dieser Perspektive ist es nicht verwunderlich, dass Karl als König von Böhmen eine anders gerichtete Politik verfolgte und andere Wege einschlug als im Heiligen Römischen Reich, das ab 1356 von den Kurfürsten gelenkt wurde.38
Die Politik der Expansion und Konsolidierung Böhmens, die Karl seit seiner Kaiserkrönung verfolgte, wird meist in zwei Phasen unterteilt.39 Die erste dauerte bis 1361, bis zur Geburt des ersehnten Thronfolgers. Zu diesem Zeitpunkt hatte Karl seine Stellung in den überwiegend bereits von seinem Vater Johann eroberten Gebieten ausgebaut und gesichert, also in der Oberlausitz und einem Großteil von Schlesien. Hinzu kam die Gegend um Eger/Cheb (nicht zu verwechseln mit dem ungarischen Eger) unweit von Karlsbad, das Karl IV., wie der Name erkennen lässt, zur Königsstadt erhoben hatte, nachdem sein Vater Johann es in den 1320er-Jahren von Ludwig dem Bayern als Pfand für ein Darlehen erhalten hatte. Vor allem aber hatte Karl am 7. April 1348 mit 13 Urkunden an einem einzigen Tag die Fürstentümer Lausitz und Schlesien in die Krone Böhmens inkorporiert. Ähnliche Ziele verfolgte er mit seiner dritten Ehe. Anna von Schweidnitz war mütterlicherseits ein Spross der ungarischen Anjou und Erbin des Herzogtums Schweidnitz-Jauer, das Karl in Schlesien als einziger Mosaikstein noch fehlte. Durch die Heirat 1353 kam auch dieses Herzogtum unter den Einfluss Böhmens und wurde nach dem Tod des letzten Herzogs Bolko II. 1368 den Ländern der böhmischen Krone zugeschlagen. Der zweite Meilenstein in den 1350er-Jahren war von 1353 bis 1355 die Bildung einer Landbrücke zwischen Prag und Nürnberg entlang der „Goldenen Straße“ durch Erweiterung der Landstriche bei Lauf und Sulzbach, die Karl 1349 durch seine zweite Ehefrau Anna von der Pfalz zugefallen waren, zur terra trans silvam Boemicalem in Bavaria, nach moderner Lesart Oberpfalz oder „Neuböhmen“.40 Diese strategische Achse hatte für den Kaiser so hohen Stellenwert, dass er dort von 1357 bis 1378 nur zwei Landeshauptmänner seines Vertrauens einsetzte. Die feierliche Inkorporation des Gebietes erfolgte mit einer goldgesiegelten kaiserlichen Urkunde, die Karl als erste unmittelbar nach seiner Kaiserkrönung im April 1355 verkünden ließ. Sie führte detailliert die Rechte der böhmischen Krone auf: alleinige Zuständigkeit königlicher Gerichtshöfe, exklusive Ausübung der Regalien, Monopol auf Zölle, Münzwesen und Maut, Bergbau und – gegen klingende Münze – Schutz der jüdischen Gemeinden. Die einzelnen von der Krone beanspruchten Güter wurden, in 24 Bezirke unterteilt, im „Salbüchlein“ von 1366 bis 1368 verzeichnet, das sich als Mustervorlage für die zentralisierte königlich-böhmische Verwaltung etablierte.41 Als krönenden Abschluss erhob Karl Lauf an der Pegnitz zur Königsstadt