Sie schritten die Gasse hinauf, und während Luke Short vor Rozy Gingers Bar stehenblieb, betrat der Marshal die Bar, aber nicht von vorn, sondern auf dem Weg, den Doc Holliday meist benutzt hatte. Nämlich durch die Hintertür. Der Flur war leer. Die Küchentür stand halb offen, und Speisegerüche schlugen ihm entgegen.
Er wollte gerade die Tür zum Schankraum öffnen, als diese aufgestoßen wurde.
Der Mann, der in ihrem Rahmen stand, starrte den Marshal verblüfft an.
Auch die Verblüffung in den Augen des Marshals hätte nicht größer sein können!
Es war Jeremias Clanton. Ikes Vetter.
Wyatt packte ihn am Ärmel und zerrte ihn blitzschnell in den Flur, schlug ihm die linke Hand auf den Mund, zog blitzschnell seinen fünfundvierziger Colt und stieß ihn dem Burschen in die Rippen.
»Du hast die Flanagans gewarnt!«
Der Bursche rührte sich nicht.
Wyatt nahm ihm die Waffen aus den Halftern und schob sie in den eigenen Gurt.
»Komm mit!«
Jerry Clanton war so überrascht, daß er zu keiner Gegenwehr fand.
Wyatt führte ihn in den Hof und zerrte ihn an die Ecke des Hauses.
Luke Short, der vorn an der Straßenecke des Hauses stand, kam auf die beiden zu.
»He, das ist wirklich eine Überraschung.«
Wyatt hatte den Revolver noch in der Hand.
»Du hast die Bande gewarnt!«
Jerry senkte den Kopf.
»Rede!«
Aber Jerry schwieg.
Da holte der Texaner aus, und eine krachende Ohrfeige warf den Burschen bis in den Hof zurück.
»Mach das Maul auf, Junge, sonst schlage ich dir sämtliche Zähne ein.«
Jerry kauerte am Boden und krächzte: »Ja. Ich war es.«
Luke zog die Brauen hoch und wandte sich an Wyatt.
»Tut mir leid, Marshal. Ich weiß, daß Sie das nicht schätzen, aber es kürzt das Verfahren ab, und wir gewinnen Zeit.«
Wyatt blickte auf Jerry Clanton nieder.
»Steh auf!«
Der erhob sich und preßte die Hand auf die getroffene Gesichtsseite. Er hatte das Gefühl, daß der Schlag ihm den Kiefer zerschmettert haben müßte. Aber er war völlig unverletzt.
»Der Trick war gut«, sagte Luke Short. »Es war eine großartige Idee, Marshal. Typisch für Sie. Jetzt wissen wir doch endlich, daß die Clantons zu den Galgenmännern gehören. Und – daß Ike ihr Führer ist.«
Wyatt schoß dem Texaner einen fragenden Blick zu. Dann stieß er dem Burschen den Revolver wieder auf die Brust.
»Was hast du dazu zu sagen, Jerry?«
Der wollte den Kopf senken.
Wyatt verstärkte den Druck des Revolvers und spannte den Hahn. »Mach den Mund auf, Junge. Ich rate dir gut.«
»Nein«, krächzte der Bursche. »Er war es nicht. Er weiß gar nichts davon. Als Sie um das Haus herumgingen zum Corral, oben bei uns auf der Ranch, lief ich durch das Haus und versteckte mich hinten in Phins Zimmer, wo ich hören konnte, was Sie am Corral mit Ike sprachen.«
»Und?«
»Well, dann bin ich hierhergeritten und habe Bescheid gesagt.«
»Wem hast du Bescheid gesagt?« Blitzschnell kam die Frage.
»Den Leuten hier.«
»Lüge nicht, du bist nicht hier bei den Flanagans gewesen.«
»Doch, gerade.«
»Ich habe dir gesagt, du sollst nicht lügen. Du bist zwar jetzt drüben gewesen, aber du hast die Bande viel früher gewarnt, und zwar nicht hier. Bei wem bist du gewesen? Und wer hat die Leute gewarnt?«
»Ich bin ganz einfach oben bei Miller gewesen. Sie wissen doch, wo die Schießerei war?«
»Und?«
»Ich habe da gesagt, daß Wyatt Earp um acht Uhr bei den Flanagans eine Gruppe von Galgenmännern ausheben will.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter. Ich habe nichts mit den Leuten zu tun. Ich weiß auch nicht, wer die anderen gewarnt hat und auch nicht, wie es vor sich gegangen ist.«
Das konnte ihm der Marshal nun glauben oder nicht. Jedenfalls schien festzustehen, daß Ike die Graugesichter nicht gewarnt hatte. Und andererseits war es nicht ausgeschlossen, daß er den Burschen in die Stadt geschickt hatte.
Der Missourier war also wieder so klug wie vorher.
Es klang durchaus glaublich, daß Jerry Clanton, der den Marshal ja haßte, nur um diesem zu schaden, in die Stadt geritten war, um die Graugesichter zu warnen. Es konnte sich absolut so abgespielt haben, wie er berichtet hatte.
»Leider Gottes kann es auch ganz genau anders gewesen sein«, sagte der Texaner, packte den Burschen am Ärmel und schob ihn vor sich her auf die Straße. »Jedenfalls kommst du erst einmal ins Jail, Junge. Du läufst uns zu oft vor die Füße.«
Jerry Clanton blieb stehen und blickte den Marshal an.
»Mit welcher Begründung setzen Sie mich fest, Mr. Earp?«
Gelassen entgegnete der Missourier: »Leute, die es mit den Graugesichtern halten, sind gemeingefährlich.«
»Wie lange wollen Sie mich festhalten?«
»Darüber wird der Richter befinden.«
*
Wyatt Earp war ins Russianhouse zurückgekehrt, während Luke Short Jerry Clanton ins Gefängnis brachte.
Vorne in der Halle begegnete der Marshal Nellie Cashman.
»Wollen Sie Ihr Abendbrot einnehmen, Mr. Earp?« fragte sie.
»Gleich. Ich will vorher nur nach Doc Holliday sehen.«
»Ich glaube, er schläft«, sagte die Frau.
Der Marshal ging zum Zimmer des Spielers und öffnete die Tür.
Er warf einen Blick auf das Bett und wollte die Tür wieder schließen.
»Wyatt!« hörte er da die schwache Stimme des Georgiers.
Der Marshal trat ein.
»Ich hasse die Dunkelheit«, sagte der Spieler. »Können Sie nicht ein Licht anzünden?«
»Doch, natürlich.« Wyatt riß ein Zündholz an und hielt es an den Docht der kleinen grünabgeschirmten Kerosinlampe.
Eine geisterhafte Blässe hatte das Gesicht des Gamblers überzogen.
»Wie geht es?« fragte Wyatt vom Fußende des Bettes her.
»Ich weiß es nicht. Ich wollte, es wäre Morgen.«
Es war einen Augenblick still, dann sagte Doc Holliday mit sanfter Stimme: »Es war ein mittelgroßer Kerl. Er hatte ein breitflächiges, narbiges Gesicht und graue Augen. Ich muß ihn an der rechten Hand getroffen haben. Vielleicht nur mit einem harten Querstreifer… An der linken Hand trug er den Ring der Graugesichter…«
Holliday schwieg erschöpft.
Als Wyatt wieder auf der Straße stand, hatte der Wind die Wolkenbank auseinandergerissen und ein silbern leuchtendes Himmelsstück freigefegt.
Langsam ging der Marshal die Gasse zur Allenstreet hinauf, am Office vorbei, in die Dritte Straße, die hinauf zur Fremontstreet führte.
Oben auf dem Hügel des Boot Hill jaulte der