»Kindererziehung ist eine der anspruchsvollsten, herausforderndsten und belastendsten Aufgaben auf diesem Planeten. Sie ist auch eine der wichtigsten, denn so, wie sie umgesetzt wird, wird zum großen Teil das Herz und die Seele und das Bewusstsein der nächsten Generation beeinflusst …« (Kabat-Zinn und Kabat-Zinn 1997, S. 13).
In seinem Essay mit dem Titel »Der Buddha und seine dysfunktionale Familie« analysierte Titmuss (2015a) kritisch die Familienbeziehungen von Siddhartha Gautama. Das Erleben von Verlassenwerden, der Verlust seiner Mutter und Konflikte mit seinem Vater können zu einer dysfunktionalen Familiendynamik beigetragen haben, kombiniert mit ambivalenten Gefühlen gegenüber längeren, verbindlichen Beziehungen. Es kann weiterhin spekuliert werden, dass die eigenen Kindheitserfahrungen von Siddhartha Gautama ein Grund für die Vernachlässigung der Themen zur Kindheit in seinem Leben und seinen Lehren sein könnte.
Wie verlief Siddhartha Gautamas Leben nachdem er sein Zuhause und seine luxuriöse Umgebung als Prinz verlassen hatte? Nach den Berichten von Schumann (2016) schnitt er seine Haare ab und verbrachte die ersten Tage als Wandermönch im Freien, auf der Suche nach einem Lehrer. Sein erster Lehrer war ein Mann namens Alara Kalama, aber er war mit seinen traditionellen Lehren zur Meditation nicht zufrieden. Sein zweiter Lehrer war ein Mann namens Uddaka Ramapotta, aber wieder konnte er die Fragen seiner Suche mit diesem Lehrer nicht zufriedenstellend beantworten. Nach Schumann (2004) dauerten seine Studien mit diesen zwei Lehrern nicht länger als ein Jahr.
Der nächste Schritt von Siddhartha Gautama war es, sich ganz in den Wald zurückzuziehen. Im Alter von 30 Jahren begann er seine asketischen Übungen. Unter anderem versuchte er das Denken zu verhindern, seinen Atem so lange wie möglich anzuhalten, selbst zur kalten Jahreszeit auf Kleidung zu verzichten, so lange wie möglich aufrecht zu stehen und natürlich nicht zu essen. Seine Hungerversuche waren so extrem, dass er dem Tod nahe war. In dieser Zeit gewann er fünf Anhänger, die seine Askese, seine Disziplin und Härte bewunderten.
Im Zustand der extremen Kachexie erkannte er, dass Abmagerung, Peinigung und Marterung nicht hilfreich waren, um wirkliche Weisheit zu erlangen. Zu diesem Zeitpunkt begann er wieder zu essen. Es ist interessant, dass er sich gerade dann an seine erste wichtige Kindheitserfahrung der tiefen Absorption erinnerte, als er unter dem Rosenapfelbaum saß, während sein Vater pflügte. Diese Erinnerung war zum Zeitpunkt seiner höchsten körperlichen Auszehrung der Wendepunkt, der ihn zum Leben zurückführte, wie Schumann es erläuterte:
»Sollte etwa diese Art Kontemplation der Weg zur Erleuchtung sein? Da ein ausgemergelter, sich durch Mangelerscheinungen ständig meldender Körper schlecht zum Träger geistiger Suche taugt, hatte Siddhartha kurz nach der Erinnerung an jenes Jugenderlebnis Askese und Fasten verworfen und war zu einer ausgeglichenen Lebensweise zurückgekehrt« (Schumann 2004, S. 70).
Abb. 3: Der Buddha in einem ausgemergelten, kachektischen Hungerzustand (British Museum, London). Die Augenhöhlen sind tief eingesunken, die Wangen faltig und Venen treten an der Stirn hervor. Siddharta Gautama war kurz vor seinem Tod, als er sich an sich an die tiefe Versenkung als Kind unter dem Rosenapfelbaum erinnerte und erkannte, dass die Lösung nicht in der Askese liegt, sondern nur im mittleren Weg.
Kinder spielen nicht nur in Bezug auf die Erinnerung an seine Kindheitserfahrung unter dem Rosenapfelbaum, die von tiefer Ruhe und Meditation geprägt war, eine wichtige Rolle. Nach der Lebensgeschichte des Buddha, wie Thich Nhat Hanh sie so poetisch nacacherzählte, erhielt Siddharta Gautama seine erste Nahrung nach seiner extremen Askese von einem 13-jährigen Mädchen namens Sujata, die ihm eine Schale mit Reismilch reichte und ihn so vor dem Tod rettete. Er war körperlich so geschwächt, dass er bewusstlos zusammengebrochen war:
»Eine Zeit lang lag er bewusstlos da. Mit einem Mal erschien ein junges Mädchen aus dem Dorf. Die 13-jährige Sujata war von ihrer Mutter mit Reismilch, Kuchen und Lotus-Samen ausgeschickt worden, den Waldgöttern zu opfern. Als sie den Mönch bewusstlos auf der Straße liegen sah und beim Nähertreten bemerkte, dass er kaum noch atmete, kniete sie nieder und führte eine Schale Milch an seine Lippen. Sie wusste, dies war ein Asket, der aus Schwäche in Ohnmacht gefallen war.
Als die Milchtropfen seine Zunge und seine Kehle befeuchteten, reagierte Siddharta sofort. Er spürte, wie erfrischend die Milch war, und langsam trank er die ganze Schale leer. Nach einigen Atemzügen war er soweit erholt, dass er sich aufsetzen konnte, und er winkte Sujata, ihm noch eine Schale Milch zu reichen. Es war erstaunlich, wie schnell die Milch seine Kräfte wiederherstellte! An diesem Tag entschloss er sich endgültig, seine strenge Askese aufzugeben; in dem kühlen Wald jenseits des Flusses wollte er bleiben und dort üben« (Hanh 1992, S. 102–103).
So hat ein 13-jähriges Mädchen verhindert, dass Siddharta Gautama an den Folgen seiner Askese starb. Zuerst war es eine intensive Erinnerung an eine entscheidende Kindheitserfahrung, dann war es die großzügige, umsorgende Gabe von Nahrung durch ein junges Mädchen. Die Umkehr von den Extremen des Überflusses wie auch dem Extrem der Askese und die Entdeckung des mittleren Weges hat der Buddha somit jungen Menschen zu verdanken. Indem er allerdings wieder anfing zu essen, enttäuschte er seine fünf Anhänger, die ihn sofort verließen. Siddhartha Gautama war wieder einmal alleine.
In den nächsten Tagen gewann er seine Kräfte wieder und durchlief eine wichtige Wandlung:
»Schließlich gab er auch das Verlangen auf, der Welt der Erscheinungen zu entkommen, und als er so zu sich selbst zurückkehrte, empfand er, dass er in der Welt der Erscheinungen vollkommen gegenwärtig war. Ein Atemzug, der Gesang eines Vogels, ein Blatt, ein Sonnenstrahl – alles konnte Gegenstand seiner Meditation sein. Er begann zu verstehen, dass der Schlüssel zur Befreiung in jedem Atmen, in jedem Schritt, in jedem kleinen Kieselstein auf dem Weg lag« (Hanh 1992, S. 103).
Diese wichtige Szene unterstreicht die Bedeutung von tiefen Kindheitserfahrungen, die als seelisches Fundament für die Bewältigung späterer Krisen dienen kann. Kindheitserinnerungen können im Erwachsenenalter wiederauftauchen und zu wirklichen Wendepunkten werden, die als Augenblicke in der Zeit definiert werden, gekennzeichnet durch plötzliche, lebensverändernde Ereignisse, die jenseits der Kontrolle des Individuums liegen. Wie wir später sehen werden, sind auch beide Arten des Exzesses – Luxus, Verwöhnung und die Suche nach Sinnesreizen sowie das Gegenteil von Askese und Selbstbestrafung – schädlich für Körper, Geist und Seele. Wie der Buddha es später erkannte, ist der mittlere Weg der geeignetste, heilsamste und zuträglichste Weg für menschliches Leben. Diese einfache Wahrheit wird oft nicht gesehen, zum Beispiel von Kindern und Jugendlichen mit Anorexia nervosa oder anderen psychischen Störungen. Aber auch Erwachsene neigen dazu, dies zu missachten.
Nachdem er Gewicht und Gesundheit wiedererlangt hatte, setzte Siddhartha Gautama seine meditativen Explorationen alleine fort, bis er schließlich während fortgesetzter Meditation unter einem Pipalbaum (Ficus religiosa, auch Bodhi Baum genannt) in Bodh Gaya in Nordindien zu tiefen Einsichten gelangte. Von diesem Zeitpunkt des Erwachens an, wurde er der Buddha genannt, d. h. der Erleuchtete. Wiederum spielt das Symbol des Baums eine große Rolle bei diesem Ereignis. Dreimal in seinem Leben waren Bäume stille Zeugen: Der Salbaum, an dem sich seine Mutter Maya während seiner Geburt abstützte, der Rosenapfelbaum während seiner spirituellen Absorption als Kind und nun der Pipalbaum bei seiner Erleuchtung. Der Baum wird als Symbol der Transzendenz in vielen Religionen verehrt. Bäume haben Wurzeln, die sie fest in der Erde verankern, und Äste, die zum Himmel wachsen. Ihre Stärke und Langlebigkeit sind Symbole von Ausdauer, Geduld und Standhaftigkeit. In vielen Traditionen glaubt man, dass Bäume von weiblichen Wesen und Göttinnen belebt sind. Bäume bieten Schutz und heilige Räume für Einsicht, sogar Erleuchtung wie bei dem Buddha. Ein Pipalbaum steht noch immer