Was wissen wir über die Kindheit des Siddhartha Gautama? Obwohl es nicht viel ist, sind mehr Fakten überliefert als zum Beispiel über die frühen Jahre von Jesus Christus. Wie wir später sehen werden, gibt es nur wenige Szenen in der Bibel über Jesus als Kind, zum Beispiel als er von seinen Eltern weglief und im Tempel blieb.
Siddhartha Gautama wuchs in solchem Reichtum auf, dass alle seine Wünsche erfüllt wurden. Dennoch zeigte er kein hohes Interesse an praktischen Aktivitäten wie Landwirtschaft und Kampfkunst, was für seinen Vater mit Sicherheit schwer zu akzeptieren war (Schumann 2004, S. 37). Stattdessen hatte er eine hohe Neigung zur Philosophie, Kontemplation und Meditation – Aktivitäten, die deutlich von den Erwartungen an einen zukünftigen Staatsmann abwichen. Wie Schumann es ausdrückte: »Die Gautama-Familie, die seine schwache Weltverhaftung und seine Transzendenz-Neugier stirnrunzelnd beobachtete«, versuchte so weit wie möglich dieses zu verhindern. »Wenn die Legende berichtet, Suddhodana habe seinen Sohn gegen die Welt abgeschirmt, um ihm den Anblick des Leidens zu ersparen, so war wohl der wahre Grund, Ideen der Weltflucht von ihm fernzuhalten« (Schumann 2004, S. 43).
In einem späteren Abschnitt beschreibt Schumann eindrücklich die Unterschiede zwischen Vater und Sohn:
»Hatte Suddhodana … gehofft, sein ältester Sohn werde sich zu einem robusten, entschlossen der Welt zugewandten Tatmenschen mit politischen Ambitionen entwickeln, so wurde er enttäuscht. An fröhlichen Gruppenspielen und militärischen Übungen desinteressiert, war der Jüngling zum Eigenbrötler geworden und philosophischen Überlegungen und kontemplativen Betrachtungen allzu sehr hingegeben. Statt seine angenehmen Lebensumstände zu genießen, war er infolge selbstentwickelter Maßstäbe mit der Welt unzufrieden und litt unter ihren Unzulänglichkeiten. Zugleich sann er darüber nach, wie sich die Welt subjektiv überwinden lasse. Kurzum, er war, mit der Sprache der Psychologie zu reden, ein sensibler, habituell introvertierter Denktyp. Kein Wunder, dass ihn das Leben in Haus und Ehe seelisch nicht ausfüllte und er die Chance ergriff, als Samana (Mönch) der Welt zu entsagen« (Schumann 2004, S. 224).
Zusammengefasst wuchs Siddhartha Gautama in einem Palast auf, in dem alle seine materiellen Bedürfnisse mehr als gedeckt waren. Wie er sich später daran erinnerte, »lebte ich … äußerst verwöhnt (im Elternhaus)« (Schumann 2004, S. 36). Als er 16 Jahre alt wurde (547 vor Christus), heiratete er seine Cousine Yasodhara, aber es dauerte weitere 13 Jahre bis sein Sohn Rahula geboren wurde. Insgesamt findet man wenig Aufsässigkeit in Siddhartha Gautamas Jugend. Allerdings führte seine Ernüchterung über sein materiell gesättigtes Leben schließlich dazu, dass er als junger Erwachsener im Alter von 29 Jahren seine Familie verließ.
Von früh an muss Siddhartha Gautama eine tiefe Berufung zu einem spirituellen Leben gespürt haben. Seine inhärente spontane Spiritualität, die allen Menschen innewohnt, war einfach so überwältigend, dass er ihr folgen musste. 25 Jahrhunderte später konnte sich Thich Nhat Hanh, einer der weisesten und bekanntesten gegenwärtigen buddhistischen Lehrer, an eine ähnlich tiefe Berufung als Kind erinnern. In einer bewegenden Sendung von Oprah Winfrey (Winfrey 2010) wurde er von ihr gefragt:
OW: | »Gibt es irgendeine besondere Erinnerung, die sie über ihre Kindheit erzählen können – ihre schönste Erinnerung?« |
TNH: | »Eines Tages sah ich ein Bild des Buddha in einer buddhistischen Zeitschrift und er saß auf dem Gras.« |
OW: | »Wie alt waren Sie da?« |
TNH: | »Sieben, acht … Und er saß auf dem Gras sehr friedvoll … lächelnd … Und ich war beeindruckt. Um mich herum waren die Menschen nicht so wie er, sodass ich mir wünschte, so zu werden wie er. Und ich hegte diesen Wunsch bis zum Alter von 16 Jahren, als sich die Erlaubnis meiner Eltern bekam, ein buddhistischer Mönch zu werden.« |
OW: | »Wie fühlte sich dieser Wunsch, dieses Drängen, dieses Gefühl von ›Was ich tun muss, was ich werden muss‹ … Wie fühlte es sich an?« |
TNH: | »Ich würde nicht glücklich sein, wenn ich nicht ein Mönch geworden wäre, und das ist das Gefühl.«6 |
Was in diesem Interview so schön ausgedrückt wurde, ist die starke spirituelle Berufung eines jungen Kindes, das genau und intuitiv wusste, wie sein Lebensweg sein würde. Während Thich Nhat Hanh schon in einem frühen Alter Mönch werden konnte, musste Siddhartha Gautama bis zum Alter von 29 Jahren warten, um diesen großen Schritt zu machen.
In der Biografie Siddharta Gautamas sind drei Szenen besonders bedeutsam: Die Erfahrung von tiefen meditativen Zuständen als Kind unter dem Rosenapfelbaum, die sogenannten vier Exkursionen und der große Abschied als junger Erwachsener. Diese werden in den folgenden Abschnitten ausführlich beschrieben.
Der Rosenapfelbaum (oder das Pflügen)
Die Rosenapfel-Szene erscheint auf den ersten Blick belanglos, spielt aber eine entscheidende Rolle in der Biografie des Buddha. Sie ist so wichtig, da Siddhartha Gautama »zum ersten Mal von der Möglichkeit der Befreiung kostete – etwas, das universell für jeden zur Verfügung steht, der es versucht« (Sasson 2013, S. 82). Der Rosenapfelbaum ist ein Busch mit tiefhängenden Ästen, der allerdings bis zu 15 m hoch wachsen kann und Früchte trägt, die ähnlich sind wie Guavas.
Das Pflugfest war eine wichtige Feier am Hof. Jeder zog seine beste Kleidung dazu an. Suddhodana nahm seinen Sohn und seine Kindermädchen mit zum Feld und Siddhartha Gautama saß im Schatten unter einem Rosenapfelbaum. In dieser berühmten Pflug-Szene beobachtete Siddhartha Gautama seinen Vater, wie er in dieser wichtigen Zeremonie das Feld pflügte, um seine Herrschaft zu bekunden.
Unter dem Rosenapfelbaum trat Siddhartha Gautama zum ersten Mal in eine tiefe Meditation ein. In einer Version der Texte blieb er im Schatten des Baums sitzen, obwohl sich der Schatten aller anderen Bäume inzwischen verändert hatte. Er erkannte, dass es selbst bei dieser wichtigen Feier Leid für Lebewesen gibt, da Insekten und Würmer durch die Pflugscharen aufgewühlt und von den Vögeln gegessen wurden. Andere Texte schmücken die Geschichte weiter aus und berichten, dass der Pflug einen Frosch und eine Schlange tötete. Ein Junge ergriff daraufhin den Frosch, um ihn später zu essen, und warf die Schlange weg. Zur gleichen Zeit fühlte Siddhartha Gautama ein tiefes Mitgefühl mit den anwesenden Menschen, für die Arbeiter, die in der heißen Sonne schwitzen, und für die Last der Büffel, die den Pflug ziehen mussten (Sasson 2013, S. 83). Im Gegensatz zu seinem Vater, der mit dem Pflügen beschäftigt war und somit gerade diese Schmerzen verursachte, stand Siddhartha Gautama abseits vom Geschehen und distanzierte sich von der weltlichen Rolle seines Vaters. Dadurch betonte er seine Rolle als zukünftiger Mönch.
In einer der Lehrreden des Buddha, der »Großen Rede an Saccaka« (Buddha, Middle Length Discourses 1995, Sutra 36, Paragraf 31) wird diese Szene detailliert beschrieben:
»Ich kann mich erinnern als mein Vater, der Herrscher der Sakyas, beschäftigt war, während ich in dem kühlen Schatten eines Rosenapfelbaums saß, abseits von sinnlichen Freuden, abseits von ungesunden Geisteszuständen, trat ich ein und verblieb in dem ersten Jana, der begleitet wird durch angewandtes und aufrechterhaltendes